Die Architektur verkommt zur städtebaulichen Discokugel

Die MSG Sphere in Las Vegas und der Novartis-Pavillon in Basel reduzieren die Fassade auf einen LED-Schirm. Der Trend zu Mattscheiben-Gebäuden ist ein Verlust für die Baukultur und für die Stadt. In London stossen Pläne für eine weitere Pixel-Kugel von MSG auf heftigen Widerstand.

Andres Herzog 5 min
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Kugel mit lauter Quallen: die neue MSG-Sphere in Las Vegas.

Kugel mit lauter Quallen: die neue MSG-Sphere in Las Vegas.

Tayfun Coskun / Anadolu / Getty

Am Independence Day 2023 wurde in Las Vegas erstmals die neue MSG-Sphere bespielt, ein kugelrunder Veranstaltungsort, dessen gesamte Fassade aus einem 54 000 Quadratmeter grossen LED-Bildschirm besteht. Es ist der grösste der Welt. Einen Moment lang erinnerte das an Buckminster Fullers geodätischen Dom, dann wurde die Kugel zu einem übergrossen Globus, zu einem Feuerball oder einem Wassertropfen. Und schliesslich ging der Mond auf mitten in der Wüstenstadt.

Die Promotoren sprechen von «lebendiger Architektur», während sie im Grunde die traditionelle Baukultur auflösen. Bauherrin ist die Firma, die hinter dem Madison Square Garden in New York steht. Entworfen wurde die Sphäre vom Architekturbüro Populous, das sich auf Sportstadien und Veranstaltungsstätten spezialisiert hat. Die Architekten nennen die Fassade «Exosphere» und machen damit klar, dass Innen und Aussen nichts miteinander zu tun haben. Sie besteht aus 1,2 Millionen Elementen, die je 48 Leuchtdioden aufnehmen, die 256 Millionen Farben darstellen können. Hinter dem Fassadenschirm befindet sich eine Eventhalle mit einer Kapazität für 20 000 Personen. Sie ermöglicht ein neuartiges, mediales Konzerterlebnis mit raumfüllenden Projektionen.

Nun kann man einwenden, dass das glitzernde Las Vegas nicht der Massstab für die Baukultur ist. Doch die Idee bleibt nicht nur den Gamblern in Nevada vorbehalten. In London plant MSG eine identische Leuchtkugel. 2022 erhielt das Bauvorhaben grünes Licht von der Entwicklergesellschaft. Doch es formierte sich Widerstand. Es gab 852 Einwände dagegen und eine Petition mit 2000 Unterschriften.

Visualisierung der geplanten MSG-Leuchtkugel in London.

Visualisierung der geplanten MSG-Leuchtkugel in London.

Visualisierung Populous

Ein Politiker bezeichnete die Struktur als «Monstrosität». Die Autorin Anna Minton spricht in einem Kommentar für das Online-Magazin «Dezeen» von der «Las-Vegasification» des Londoner Stadtteils Stratford. Wichtiger als die ästhetischen Mängel sei jedoch das Versagen der Demokratie, da die Entwicklergesellschaft demokratisch nicht legitimiert sei. Im Februar 2023 hat die Stadt die Baubewilligung vorübergehend auf Eis gelegt, um länger zu beraten.

In der Schweiz wurde die Idee der Mattscheiben-Architektur bereits umgesetzt, wenn auch nicht so radikal wie in Las Vegas. Letztes Jahr eröffnete Novartis auf seinem Campus in Basel einen Pavillon, dessen gerundete Fassade mit einem Netz aus Photovoltaikzellen und LED-Leuchten bespannt ist. Entworfen hat das Gebäude der italienische Architekt und Designer Michele De Lucchi.

Gemeinsam mit dem Haus der Elektronischen Künste hat der Pharmakonzern Künstler ausgewählt, die die Medienfassade bespielen. Entwickelt wurde sie vom Studio für mediale Architekturen «iart» in Münchenstein, das auch die hochhaushohe Kunstinstallation am Museum M+ in Hongkong von Herzog & de Meuron realisiert hat.

Der Besucherpavillon im Novartis-Campus Basel.

Der Besucherpavillon im Novartis-Campus Basel.

Erich Meyer / Imago

Ideen aus dem 18. Jahrhundert

Die Idee der kugelrunden Architektur geht zurück auf viele Weltausstellungen bis hin zu den Entwürfen von Étienne-Louis Boullée und Claude-Nicolas Ledoux im 18. Jahrhundert. Dabei ging es stets darum, die dreidimensionale Kraft des Raumes dank der starken Geometrie zu unterstreichen. Selbst die Märchenarchitektur der Kasinos in Las Vegas versucht, die Menschen mit räumlicher Opulenz zu beeindrucken. Bei der LED-Sphäre aber wird die Architektur zur zweidimensionalen Oberfläche, zur städtebaulichen Discokugel. Die Baukunst guckt in die Röhre.

Das heisst nicht, dass die moderne Technik des Teufels ist. Seit dem Bau des Kunsthauses Graz 2003 werden Fassaden mit LED bestückt. Wie man Pixel und Backsteine harmonisch zusammenbringt, haben Christ & Gantenbein bei der Erweiterung des Kunstmuseums in Basel 2016 gezeigt – ebenfalls in Zusammenarbeit mit «iart». Die Lämpchen waren dabei aber immer Ergänzungen zum gebauten Raum. Digital und Analog bereicherten sich. Der Fortschritt der Technik macht es nun erstmals möglich, die ganze Gebäudehülle damit zu bespielen. Die Fassade als solche wird überflüssig.

Die Bildschirm-Architektur führt die Dichotomie von «decorated shed» contra «duck» ad absurdum, in die die Autoren des Buches «Learning From Las Vegas» die Gebäude einteilten. Die LED-Architektur ist weder ein dekorierter Schuppen, bei dem Symbole auf eine konventionelle Struktur appliziert werden, noch eine Ente, bei der die Gebäudeform selbst zum Zeichen wird. Der Screen ist das Bauwerk, die Dekoration ist die Architektur.

Das Haus delegiert sein Gesicht an die Technik und an die Kunst. Die Architektur ist nicht einmal mehr Kulisse wie in einem Potemkinschen Dorf. Sie hat keine Form mehr und ist bloss Projektionsfläche. Die lokalen Bezüge werden damit obsolet. Vor Ort erleben muss man die buchstäblich bildhafte Architektur ohnehin nicht, weil ein Foto sie genauso gut transportiert. Damit verliert die Baukunst, was sie unersetzlich macht: das Erlebnis in Raum und Zeit.

Doch die Promotoren wollen die LED-Architektur ohnehin vor allem kommunikativ nutzen. Es wird nicht lange dauern, bis über die Kugel in Las Vegas Werbevideos flimmern. Ein Verantwortlicher von MSG sprach von einer 360-Grad-Leinwand für «brand storytelling». Dass Architektur als Träger für Reklame dient, weiss jeder, der einmal auf dem Times Square in New York stand. Und dass man mit Baukunst repräsentieren kann, haben schon die Ägypter begriffen. Doch die Mattscheiben-Architektur geht weiter. Sie ordnet sich komplett dem Kommerz unter und gibt sich selbst als Disziplin auf.

Blick auf die Stadt Las Vegas mit der MSG-Sphere im Hintergrund.

Blick auf die Stadt Las Vegas mit der MSG-Sphere im Hintergrund.

Jakub Porzycki / NurPhoto / Getty

Die Architektur wird flüchtig und unverbindlich wie ein Tweet. Das Bild einer Gesellschaft, die gebannt auf ihre Bildschirme starrt, überträgt sich auf den Massstab der Stadt. Denkbar wäre, dass die Bauten mit den Menschen interagieren oder dass eine Abstimmung über die Fassadeninhalte entscheidet. Auf der Gebäudehülle könnte man sich durch die Kanäle zappen wie am Fernseher: Architektur als Lichtspieltheater.

Die Tücken der Technik

Aufgrund des Solarstroms bezeichnet Novartis die Medienfassade in Basel als Nullenergie-Gebäude. Dennoch widerspricht die LED-Architektur dem sparsamen Umgang mit Ressourcen. Sie sorgt zudem für Lichtverschmutzung. Um die Natur zu schonen, sollten Städte den Nachthimmel so wenig wie möglich erhellen.

Die Technik hat zudem ihre Tücken. Die Hülle des Pavillons sollte bei Sonnenuntergang 30 Minuten lang leuchten. Doch Novartis musste die Fassade 2023 vorübergehend ausschalten wegen «einer technischen Schwachstelle bei den Verbindungskabeln». Wenn die LED-Lämpchen aber nicht leuchten, wird die Fassade zu einem grossen schwarzen Loch, das alles Licht verschluckt. Wie beim astronomischen Phänomen ist der Bezug zwischen innen und aussen endgültig gekappt, die Fassade verstummt. Was sich hinter dem «Ereignishorizont» abspielt, können die Stadtbewohner nur erraten.

Die Bildschirm-Architektur wird sich nicht durchsetzen. Nicht weil es nicht genügend Bauherren gibt, die dem Reiz der LED-Lämpchen erliegen. Sondern weil die Technik zu teuer ist, um jedes Wohnhaus damit auszustatten. Ein Wermutstropfen bleibt aber. Es werden gerade die Eigentümer der wichtigsten öffentlichen Bauten in Versuchung geraten, der Architektur als Raumkunst den Stecker zu ziehen, weil sich dort die PR-Wirkung der Medienfassaden rentiert. Opposition wie in London wird es darum auch anderswo brauchen.