Im Berliner Kiefernwald erholten sich die Schergen der SS. Heute ist die Wohnsiedlung ein städtisches Idyll

Von 1937 bis 1939 wurde in Zehlendorf die Waldsiedlung mit Wohnungen und Villen für die SS gebaut. Besuch an einem Ort, der seine Geschichte nicht abschütteln kann.

Paul Jandl 5 min
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Die Waldsiedlung in Zehlendorf umfasste über 600 Wohneinheiten, die zwischen 1937 und 1939 im Kiefernwald im Westen Berlins errichtet wurden: Zweieinhalb-Zimmer-Behausungen für die niederen SS-Chargen, grössere Villen für SS-Führer.

Die Waldsiedlung in Zehlendorf umfasste über 600 Wohneinheiten, die zwischen 1937 und 1939 im Kiefernwald im Westen Berlins errichtet wurden: Zweieinhalb-Zimmer-Behausungen für die niederen SS-Chargen, grössere Villen für SS-Führer.

Imago

Den Führer-Platz, den Treue-Pfad und die Ahnenzeile gibt es heute nicht mehr. Der verbliebene Strassenname Himmelsteig allerdings passt zu den Singvögeln, die sich in den Bäumen der Waldsiedlung Krumme Lanke niedergelassen haben. Die Vögel singen. In den Vorgärten der Häuser beklagen sich die Menschen darüber, dass Amseln die Blüten des Winterlings abfressen.

Wer in einer Stadt wie Berlin nach Idyllen sucht, der wird sie ausgerechnet hier finden. Spitzgiebelige Häuschen wie auf dem Dorf. Heimatschutzstil mit hölzernen Fensterläden in Braun, Grün und Blau. 1936 hat Heinrich Himmler für das Hauptamt Rasse und Siedlung dieses Grossprojekt in Auftrag gegeben, in dem vor allem Angehörige der SS wohnen sollten. «Blut und Boden» waren hier exemplarisch miteinander verbunden.

Die SS-Kameradschaftssiedlung wurde für Menschen gebaut, «die rassisch und charakterlich besonders wertvoll sind». Fast neunzig Jahre später regiert hier der traditionell geschichtsvergessene Immobilienmarkt. Die geräumigeren Einfamilienhäuser kosten rund eine Million Euro.

Über 600 Wohneinheiten wurden zwischen 1937 und 1939 in den Kiefernwald gestellt. Zweieinhalb-Zimmer-Behausungen für die niederen Chargen, grössere Villen für SS-Führer. Bis heute hat man sich wenig für die ehemaligen Bewohner der Anlage interessiert, aber nachdem die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» kürzlich berichtet hatte, dass es neue Forschungen gebe, ist Tempo in die Sache gekommen.

Militärischer Drill unter dem Spalier

«Man ist bei der ‹FAZ› offenbar einem Irrtum aufgesessen», sagt Matthias Donath, Teil des sächsischen «Zentrums für Kultur//Geschichte», eines privaten Instituts für historische Wissenschaft. Donath, auf den sich die «FAZ» beruft, hat nur getan, was man längst hätte tun können: Er hat alte öffentliche Adressbücher nach den Namen von SS-Angehörigen und der Anschrift Waldsiedlung durchsucht und dieses Wissen einer britischen Fernsehdokumentation über den NS-Wohnbau zur Verfügung gestellt.

Ein Puzzlestein der Geschichte. Längst noch keine Forschung. Aber die heutigen Bewohner der Siedlung wollen es plötzlich selbst wissen. Erinnerungen von Zeitzeugen werden zusammengetragen. Frühere Mutmassungen über politisch Belastete in der Siedlung werden anhand von Fakten überprüft.

Diese explizite Neugier ist durchaus neu. Zur SS-Waldsiedlung gehörte lange der Wunsch, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Man wollte nicht erinnert werden. Versuche, das vollkommen unzerstörte und originalgetreu erhaltene Areal auch unter Hinweis auf die Vergangenheit unter Denkmalschutz zu stellen, waren erst 1992 erfolgreich. Noch 2010 sorgte eine neue Stele, die am Eingang zum Wohngebiet angebracht wurde und seine Geschichte erzählte, für erbitterte Diskussionen. Heute scheinen die Menschen, die zwischen der Argentinischen Allee und den Gewässern der Krummen Lanke leben, die finstere und dramatische Historie nicht mehr ausblenden zu wollen.

Erwin Lekebusch, SS-Grösse und Leiter der Abteilung Heimstätten beim Rasse- und Siedlungshauptamt, war einer der Ersten, die als Bewohner die Waldsiedlung prägten. Unter seiner Führung hatte unter den grünen Spalieren in den Gärten militärischer Drill und gepflegteste Ordnung zu herrschen.

Auch Herbert Aust, Sachverständiger für die SS-Auslese und Beauftragter für die Aktion Lebensborn, lebte in der Kameradschaftssiedlung. Als SS-Mann war er im Nationalsozialismus für die Sterilisation von sogenannten Mischlingen und die Verschleppung «arisch» aussehender Kinder nach Deutschland zuständig. Zu den Bewohnern der Siedlung zählte ebenfalls der SS-Führer Joachim Caesar, Leiter der Landwirtschaftsbetriebe im KZ Auschwitz. Die schlichte Gemütlichkeit der fensterladenbewehrten Häuser im Wald steht für den Alltag neben dem Grauen. Für die Freizeit nach dem Werk des Mordens.

Opfer und Täter nebeneinander

Zur Geschichte der Wohnanlage gehört die Dramatik am Ende des Zweiten Weltkriegs. Das Vorrücken der russischen Armee nach Berlin führt unter den Mitgliedern der SS und ihren Angehörigen zu Massenselbstmorden. Für Zehlendorf, dieses «Hansel and Gretel idyl», wie es in einer BBC-Reportage einmal heisst, eine heftige Tragödie.

Das nächste Kapitel ist schon vom alliierten Geist der Nachkriegszeit durchweht. In die fast leerstehenden Häuser werden Opfer des Nationalsozialismus und ehemals Geflüchtete einquartiert. «Opfer und Täter lebten Haus an Haus nebeneinander. Dieses historische Kapitel ist noch nicht aufgearbeitet. Man kann das im Nachhinein nur rekonstruieren, und das wäre schon für sich eine unglaubliche Geschichte», sagt der Historiker Matthias Donath.

Egal, mit wem man in der Siedlung spricht, niemand scheint sich an den düsteren Wolken der Historie zu stören. Alle sind für Aufklärung. Die Jungen, die ihre Kinder gerade ins Elektroauto laden, ohnehin. Aber auch die Älteren. «Wenn man hierherzieht, dann weiss man, was da los war. Das ist nun einmal unsere Geschichte», meint eine ältere Dame. «Is so!, wie der Berliner sagt.» Gleich ist man im Gespräch aber auch wieder bei der Schönheit der Landschaft, die vieles vergessen macht.

Auf dem sehr kleinen Gebiet im westlichen Berliner Bezirk Zehlendorf kulminiert die deutsche Geschichte. Die Architekten Bruno Taut, Hugo Häring und Otto Rudolf Salvisberg hatten hier schon in den späten zwanziger Jahren mit grossem modernem Gestus gebaut. Ihre Flachdach-Siedlung Onkel Toms Hütte wurde von den Antimodernisten erst als «Neu Jerusalem» verspottet und dann durch ein Gegenmodell konterkariert. Häuschen mit spitzen Satteldächern wie auf dem Dorf.

«Haus und Siedlung sind nicht nur bauliche Gebilde, sondern Ausdruck von Charakter und Wesen eines Volkstums», hiess es in einschlägigen Schriften des Reichs- und Preussischen Arbeitsministeriums. Charakter und Wesen des deutschen Volkstums haben auch dafür gesorgt, dass der vormalige Besitzer der grossen Grundstücke, der jüdische Bauunternehmer Adolf Sommerfeld, das Land verlassen musste.

Sommerfeld, ein Freund von Walter Gropius, der ihm auch seine Berliner Villa baute, flüchtete 1933 nach Palästina. Später lebte Sommerfeld in Grossbritannien, bevor er 1945 nach Deutschland zurückkehrte. Sein ideologisches Gegenüber in den dreissiger Jahren war der Architekt Hans Gerlach. Gerlach, zuständig auch für den Bau der SS-Kameradschaftssiedlung in Zehlendorf, hat das Ende der Nazizeit schadlos überstanden.

So erzählt es der Architekturhistoriker Michael Haben, der 2017 sein fast neunhundertseitiges Werk «Berliner Wohnungsbau 1933 bis 1945» veröffentlicht hat. Das Monumentalwerk ist auch eine grosse Sozialgeschichte Berlins. Und es zeigt, wie weit Behauptung und Wirklichkeit beim Wohnbau in der NS-Zeit auseinanderklafften.

Im Kinderland

Die Ressentiments gegen alles Städtische verbanden sich mit einer heimlichen Verachtung der Massen. Unter immer knapper werdenden Ressourcen wurde das Volk in immer kleiner werdende Wohnungen gepfercht. Ein grosser Rückschritt im Vergleich zur Umsetzungskraft der kurzlebigen Weimarer Republik. Nur den Eliten ging es gut.

In den 1920er Jahren entstand die Flachdach-Siedlung Onkel Toms Hütte von Bruno Taut und Hugo Häring.

In den 1920er Jahren entstand die Flachdach-Siedlung Onkel Toms Hütte von Bruno Taut und Hugo Häring.

Ullstein / Getty

Die frühe Zeit der SS-Kameradschaftssiedlung Krumme Lanke war getragen durch ideologische Ermunterung. Heinrich Himmler liess die Strassennamen in Holzschilder schnitzen. Namen, die an «Blutzeugen der SS» erinnerten. Aber auch vom Volk erdachte. Die SS-Zeitschrift «Das Schwarze Korps» veranstaltete 1938 ein Preisausschreiben, das auch «die heitere Seite des SS-Dienstes widerspiegeln» sollte. «Weg der Vernunftehe» war ein Vorschlag. Eine anderer, nach Himmlers Spitznamen, «König-Heinrich-Strasse».

Eine mit «Heil Hitler!» zeichnende Mutter hofft in einem Brief auf eine «Kinderreichen-Siedlung». Es sei doch zu hoffen «dass die Männer, die rassisch eine Auslese des Deutschen Volkes darstellen, ihr hochwertiges Erbgut an eine recht grosse Zahl von erbgesunden Nachkommen weitergeben». Der Vorschlag der Frau für einen Strassennamen: «Im Kinderland».

So heisst eine Strasse tatsächlich heute noch, und es gehört zum ganz normalen Nachmittag in der Siedlung, dass unter dem Schild die Kinder spielen. Ein alter Mann, der wohl noch in den dreissiger Jahren des vorigen Jahrhunderts Kind war, hebt auf die Frage, ob er hier wohne, nur seinen Einkaufsbeutel hoch. Er schwenkt ihn mit gespielter Dringlichkeit und zieht wortkarg vorbei: «Abendbrot!»

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