Das Glasi-Quartier verpflanzt ein Stück Stadt in die Agglomeration

Der neue Stadtteil in Bülach mischt den Diskurs auf. Das Areal setzt auf Gassen und Plätze, öffentliche Erdgeschosse und eine feinteilige Architektur. Das Resultat ist radikal. So urban war das Umland noch nie.

Andres Herzog 4 min
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Das Glasi-Quartier Bülach nimmt städtebaulich Bezug zur Zürcher Altstadt, architektonisch erinnert es an Paris.

Das Glasi-Quartier Bülach nimmt städtebaulich Bezug zur Zürcher Altstadt, architektonisch erinnert es an Paris.

Roman Keller / Steiner AG

Wer über die Stadtentwicklung in der Schweiz spricht, muss über die Agglomeration reden – entgegen der medialen Aufmerksamkeit, die im Dualismus «Stadt oder Land» verhaftet ist. In der Agglo entsteht die 10-Millionen-Schweiz. Hier werden neue Orte geschaffen – oder vielmehr alte Unorte neu gedacht.

Das Glasi-Quartier beim Bahnhof Bülach macht aus dem hässlichen Entlein Agglo einen Schwan. Auf dem einstigen Industrieareal der Glashütte Bülach, die 2002 den Betrieb eingestellt hat, entstand ein neues Stück Stadt mit rund 600 Wohnungen. Das Projekt versucht nicht, aus dem Bestand, den Brüchen und der Widerborstigkeit der Agglomeration Kapital zu schlagen, das wäre eine andere kluge Strategie. Das Glasi-Quartier macht Tabula rasa. Und implantiert eine urbane Idee von Architektur an den Siedlungsrand. Aus der Zwischenstadt, wie der deutsche Architekt Thomas Sieverts die undefinierten Räume in der Agglo genannt hat, soll Stadt werden.

Diese Idee ist nicht neu. Man denke an die Blockrandquartiere aus der Gründerzeit, die im 19. Jahrhundert um die Kernstadt entstanden sind. Aber im heutigen Diskurs ist die Haltung überraschend, ja erfrischend traditionell. Das passt nicht überall. Wo es eine wertvolle industrielle Vergangenheit gibt, sollte man mit dieser planen und sie nicht abreissen. Auch aus Klimasicht würde man heute wohl mehr Bauten erhalten. Dennoch kann das Glasi-Quartier ein Vorbild sein für andere Orte.

Plätze, Gassen, Vorgärten

Was heisst das nun, Stadt in der Agglomeration? Zunächst bedeutet es Dichte. Die Häuser stehen nahe nebeneinander und sind sechs bis acht Geschosse hoch. Statt Restflächen formen sie gefasste Plätze, statt Erschliessungskorridore führen Gassen zu den Hauseingängen, statt Zäune halten Vorgärten den Abstand vom Trottoir zum Gebäude.

Die Architekten denken den Stadtteil von den Zwischenräumen aus.

Die Architekten denken den Stadtteil von den Zwischenräumen aus.

Roman Keller / Steiner AG

Viele möchten in der Innenstadt leben, aber niemand baut ihre Ideen neu. Das Glasi-Quartier widerspricht. Der Glaube an die dichte, klassische Stadt ist mutig. Nicht einmal das Richti-Areal in Wallisellen verfolgt dieses Credo so vehement. Selbst die Überbauung «Mehr als Wohnen» auf dem Hunziker-Areal in Zürich Leutschenbach fühlt sich weniger dicht an.

Der Städtebau stammt vom Büro Duplex, das auch einen Grossteil der Architektur geplant hat – bis auf das Hochhaus und die Innenarchitektur der Wohnungen. Statt einzelne Bauten neben Abstandsgrün zu platzieren, wie dies so oft geschieht in der Agglomeration, haben die Architekten den Stadtteil von den Zwischenräumen aus gedacht. Städtebaulich nimmt das Quartier Bezug zur Zürcher Altstadt, architektonisch erinnert es an Paris: Sockel, französische Fenster, Mansarddach. Dass Städtebau und Architektur aus einer Hand kommen, stärkt das schlüssige urbane Konzept.

So entsteht ein Quartier mit einer eigenen starken Identität. Es dominiert nicht Monotonie wie in vielen Agglo-Siedlungen, wo sich die gleichen Fenster hundert Meter lang aneinanderreihen. Duplex zeichnen keine Zeilenbauten für die Massenmenschhaltung. Die Architekten haben viele unterschiedliche Häuser und Grundrisse entworfen, die Regeln folgend eine Vielfalt erzeugen. Jedes Haus ist etwas anders und doch ähnlich. Je nach Seite verändern die Fassaden ihren Ausdruck. Es ist diese Varianz, die wir an alten Städten schätzen.

Dichte ist eine Chance für Urbanität. Ein grosser Teil der Erdgeschosse wird öffentlich genutzt. Das Bistro hat jeden Tag geöffnet. Es gibt ein Café, einen Lebensmittelladen, ein Nagelstudio, eine Velowerkstatt, einen Coiffeur, ein Fitnessstudio, einen Designershop. Auch eine Kita und öffentliche Toiletten gehören zum Programm. Durchmischung heisst das Zauberwort. Dazu gehört auch der Mix aus Eigentums-, Miet- und Genossenschaftswohnungen, der beweist: Diese Form der Stadt ist für verschiedene Einkommensschichten bezahlbar. Ein Anteil Büro und ein Ärztezentrum kommen dieses Jahr noch dazu auf dem Areal.

Agglo geht auch anders: Das Glasi-Quartier ist ein echtes Pionierprojekt.

Agglo geht auch anders: Das Glasi-Quartier ist ein echtes Pionierprojekt.

Erwin Lötscher

Stadt heisst: sowohl als auch. Das Auto ist nicht komplett verbannt, aber auf Tempo 20 in Begegnungszonen gezähmt. Selbst die Natur ist integriert ins Stadtgefüge mit Bäumen, begrünten Plätzen und einem Velogaragenaufgang als Pergola.

Vielversprechendes Experiment

Das Quartier belebt den Diskurs. Es ist ein Stück Innenstadt aus der Retorte, das der wabernden Agglomeration Struktur geben soll. Man kann viele Fragen stellen: Ist diese Architektur nicht zu losgelöst vom Kontext? Wo bleibt die Erinnerung an früher, abgesehen von den Strassennamen? Überfordert die Dichte die Menschen nicht? Werden sich die Läden halten können?

Und dennoch: Das Glasi-Quartier ist ein Pionierprojekt, weil es zeigt, dass Agglo auch anders geht. Es soll nicht als Stempel dienen für anderswo, aber als Inspiration. Die belanglose Siedlungsarchitektur hat man in der Zwischenstadt lange genug versucht, mit dem immergleichen Resultat. Die urbanisierte Agglomeration im Stil des Glasi-Gebiets könnte zudem das Wohnproblem in den Ballungsräumen entschärfen, weil mehr Leute bereit sein werden, aus der Stadt zu ziehen.

Das Areal ist ein Experiment. Und es könnte aufgehen, wie ein Besuch vor Ort zeigt. An einem Wochenende ist das Quartier erstaunlich belebt – und dies abseits der Kernstadt von Bülach und rundherum abgeschnitten durch Bahn und Strasse. Mit dem Vorbild, der 17 Minuten per Zug entfernten Zürcher Innenstadt, kann das Quartier nicht mithalten. Im Vergleich mit dem Wohnareal nebenan aber wirken die Unterschiede frappant.

Dort begegnet man gleichförmigen Fassaden, unbelebten Plätzen, endlosen Hecken. Insgesamt ein Ort, der irgendwo sein könnte, wie der Grundsatzvorwurf an die Agglo lautet. Die Nutzungen sind fein säuberlich getrennt, so wie es die Moderne gelehrt hat: Eingänge an der Strasse, Ausrichtung zur Sonne, Café und Gewerbe am Rand, nicht mittendrin.

In einer typischen Agglo-Siedlung wohnt man ruhiger und anonymer. Manchen wird das besser gefallen. Aber wer will, kann auf dem Glasi-Areal ein Stück urbane Luft schnuppern in Suburbia. Ein Angebot, das viele gerne annehmen. Das Projekt mischt die Rezepte auf, die man in der Zwischenstadt anwenden kann. Vielfalt belebt das Geschäft – auch in der Stadtplanung.

Mansarddächer wie in Paris.

Mansarddächer wie in Paris.

J. Gataric