Rachmaninows ehemaliges Anwesen in Luzern hat sich erfolgreich als Kulturzentrum etabliert

Vor einem Jahr wurde die Villa Senar als Kulturzentrum eröffnet. Inzwischen stehen führende Künstler Schlange, um neue Projekte zu realisieren. Der Erfolg ist eine einzigartige Chance für die Kulturszene der Schweiz.

Marco Frei, Luzern 4 min
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Südfassade der Villa Senar in Hertenstein nach der Renovation und im wiederhergestellten Originalfarbton, 2023.

Südfassade der Villa Senar in Hertenstein nach der Renovation und im wiederhergestellten Originalfarbton, 2023.

Priska Ketterer / Denkmalpflege Luzern / Kanton Luzern

Wer das ehemalige Anwesen des Komponisten Sergei Rachmaninow in Hertenstein am Vierwaldstättersee besucht, ist erstaunt, vielleicht auch irritiert. Hier lebte ein Komponist, der in seiner Musik alle Register des Virtuosentums gezogen, dabei aber die Entwicklungen der frühen Moderne weitgehend ausgeklammert hat. Und wie zum Trotz bewohnte dieser Komponist ein ganz nach seinen Wünschen und Vorstellungen errichtetes Anwesen, das architektonisch mitten in der Moderne stand.

Tatsächlich zählt die Villa Senar – die Bezeichnung ist eine Ableitung aus den Namen der Eheleute Sergei und Natalia Rachmaninow – zu den wenigen Privathäusern im Stil des damaligen Neuen Bauens, die vollständig originalgetreu erhalten sind. Auch der grosse Park ist gartenarchitektonisch eine Besonderheit, und im Haus selber gibt es sogar einen Fahrstuhl – seinerzeit eine Sensation. Ein Anleger mit Bootshaus sowie ein Gärtnerhaus runden das Ganze ab. Hier weilte Rachmaninow während der 1930er Jahre, bis ihn der drohende Ausbruch des Zweiten Weltkriegs für immer aus Europa nach Amerika vertrieb.

Architektur und Musik

Doch wie lässt sich das alles miteinander verbinden: ein derart modernes Haus einerseits und das eher retrospektive musikalische Erbe Rachmaninows anderseits? «Vielleicht gelingt das, wenn man sich von manchen Denkmustern befreit, die noch heute mit der Musik von Rachmaninow verbunden werden», erwidert Andrea Loetscher. Seit 2022 wirkt sie als Geschäftsführerin und künstlerische Leiterin der Serge Rachmaninoff Foundation. In dieser Funktion verantwortet die studierte Flötistin und Kulturmanagerin auch das neue Kultur- und Bildungszentrum Villa Senar.

Als solches wurde das Anwesen vor einem Jahr eröffnet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht: pünktlich zum 150. Geburtstag und 80. Todestag des Komponisten und Pianisten. Was Loetscher sagt, trifft einen zentralen Punkt bei der ästhetischen Bewertung von Rachmaninow. Wer dessen historische Aufnahmen eigener Werke hört, erlebt ein entschlackendes, unprätentiöses Spiel fernab einer pathetisch-larmoyanten Über-Romantik. Alles ist klar und schnörkellos gestaltet, mit fliessenden Tempi – «reinster Bauhaus-Stil eben», meint Loetscher, und deswegen sieht sie den Widerspruch nicht bei Rachmaninow selbst, sondern eher in unserer klischeehaften Wahrnehmung seines Schaffens.

Mit dem Zentrum möchte sie dieses Bild geraderücken, und was dazu seither in Hertenstein auf die Beine gestellt wurde, ist beachtlich. Aus aller Welt stehen Pianisten buchstäblich Schlange, um mit und in der Villa Senar Projekte zu realisieren. In kürzester Zeit – das war in dem Ausmass kaum zu erwarten – wurden hier kreative Kräfte freigesetzt. Dabei dreht sich alles um das Salonstudio von Rachmaninow, das Herzstück und der ganze Stolz der Villa Senar.

Hier steht nämlich, ebenfalls original erhalten, der Steinway-Flügel, den Rachmaninow zu seinem 60. Geburtstag bekam – auch dieses Instrument ist ganz auf Rachmaninows Wünsche abgestimmt. Zu den Pianisten, die ihn bereits spielen konnten, zählt Boris Giltburg. Die spezifische Einstellung des Instruments mit seinem leichtgängigen Anschlag verrate viel über das Spiel von Rachmaninow. Er beschreibt den Klang als schwebend und klar: sehr transparent und hell im Diskant, nicht zu schwer im Bass.

Laboratorium mit Originalflügel

Auf diesem Flügel hat wiederum der Pianist Lukas Geniušas die erste Aufnahme in der Villa Senar realisiert. Hierfür hat er erstmals nach fast 120 Jahren die Urfassung der Klaviersonate Nr. 1 op. 28 aufgeführt und die Ersteinspielung realisiert. Die CD (Alpha 997) war wohl der wichtigste Beitrag zum Gedenkjahr 2023. Das Werk, von Rachmaninow selber als «absolut wild und unermesslich lang» bezeichnet, ist 1907 in Dresden entstanden und wurde in Moskau uraufgeführt. Weil aber diese Urfassung eher verhalten aufgenommen wurde, liess Rachmaninow für die Publikation Kürzungen und Änderungen vornehmen.

Studio mit dem Flügel Sergei Rachmaninows in der Villa Senar, Zustand nach der Renovation, 2023.

Studio mit dem Flügel Sergei Rachmaninows in der Villa Senar, Zustand nach der Renovation, 2023.

Priska Ketterer / Denkmalpflege Luzern / Kanton Luzern

Inzwischen ist auch schon ein zweites CD-Projekt in Arbeit. Hierzu gastierte im Januar Alexander Melnikov in Hertenstein. Mit der Sopranistin Julia Lezhneva hat er für das Label Harmonia Mundi Lieder von Rachmaninow aufgenommen, sozusagen im authentischen Wohnzimmerambiente. Demnächst erscheint als erste grosse Buchpublikation der Foundation ausserdem eine Sammlung von Interviews aus den Jahren zwischen 1909 und 1943, in denen sich Rachmaninow über Musik, sein Schaffen und die Kunst des Klavierspielens äussert.

Diese Kunst haben unterdessen Grössen des Klassikbetriebs wie Daniil Trifonov oder Yulianna Avdeeva in der Villa Senar bei Meisterkursen vermittelt. Im Sommer leitet der Schweizer Francesco Piemontesi einen Meisterkurs. Auch Alexander Malofeev, der in diesem Sommer am Lucerne Festival gastiert, gibt in der Villa Senar eine Matinee. Und weil Rachmaninow überdies ein offenes Ohr für den seinerzeit aufkommenden Jazz besass – was sich in seinem Schaffen auch sehr subtil niedergeschlagen hat –, bestreitet die Jazzpianistin Johanna Summer eine mehrtägige Residenz.

Eine Fortsetzung findet zudem die Komponierwerkstatt des Schweizers Dieter Ammann, die Rachmaninows charakteristischen Stil in die Gegenwart weiterdenken will. Andrea Loetscher ist dieser Ansatz besonders wichtig: «Wir sind kein Museum, und die Villa Senar ist kein toter Ort», stellt sie klar. Und weil Rachmaninow ausgesprochen technikaffin war, soll im September mit «Rachmaninoff Echoes» eine innovative Online-App starten. Mit ihr kann die Villa Senar ortsunabhängig besucht werden: interaktiv, mithilfe von Augmented Reality.

Wenn schliesslich auch noch das Gärtnerhaus renoviert ist, soll es als Gästehaus für Residenzen von Kunstschaffenden dienen, die sich vom Genius Loci inspirieren lassen wollen. Das Vorbild ist klar: Ein ähnliches Modell wird schon seit 1913 in der Villa Massimo in Rom praktiziert, der bedeutendsten deutschen Einrichtung zur Spitzenförderung von Künstlern im Rahmen von Studienaufenthalten. Die Schweiz ist dabei, sich mit der Villa Senar einen eigenen, weltweit einzigartigen Kunstort zu schaffen.

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