Bauwerk

Renovierung Van-Nelle-Fabrik
Wessel de Jonge, Claessens Erdmann, Molenaar & Van Winden - Rotterdam (NL) - 2004

Konstruktivismus im Polderland

Eine «Design Factory» in der Rotterdamer Van-Nelle-Fabrik

Die Van-Nelle-Fabrik in Rotterdam gilt als bedeutender Industriebau des 20. Jahrhunderts. Nach umfassenden Renovationsarbeiten ist der Komplex, der teilweise auch vom Nederlands Architectuur Instituut genutzt wird, zur «Design Factory» geworden.

17. Januar 2006 - Hubertus Adam
Die Tabakfabrik Van Nelle in Rotterdam zählt zu den Meisterwerken der niederländischen Architektur des 20. Jahrhunderts. Der in seinen wesentlichen Bestandteilen zwischen 1925 und 1931 errichtete Komplex krönte den Aufstieg eines Unternehmens, das 150 Jahre zuvor gegründet worden war. 1782 hatte Johannes van Nelle ein Handelsgeschäft für Kaffee, Tee, Tabak und Schnupftabak im Leuvehaven von Rotterdam eröffnet, das im Verlauf des 19. Jahrhunderts von der Familie van der Leeuw übernommen wurde. Um 1900 konnte sich das Unternehmen mit einer neuen Distributions- und Marketingstrategie profilieren: Einzelverpackungen, für die renommierte Gestalter gewonnen werden konnten, machten die Marke mit ihrer strengen Corporate Identity international zum Erfolg. Aufgrund des Erfolgs der Firma entstand schon 1913 die Idee, einen völlig neuen Produktionsstandort im Spangenschen Polder nordwestlich von Rotterdam zu errichten - eine Vision, deren Realisierung dann nach dem Ersten Weltkrieg Kees van der Leeuw vorantrieb, eine der schillerndsten Unternehmerpersönlichkeiten ihrer Zeit.

Funktional und expressiv

Nach ersten Vorstudien ging der Auftrag für den Neubau an den für das Unternehmen tätigen Ingenieur Michiel Brinkman. Als dieser unerwartet Anfang 1925 starb, rückte sein 22-jähriger Sohn Johannes Andreas nach. Um den Auftrag architektonisch zu meistern, verband dieser sich mit dem acht Jahre älteren Leendert Cornelis van der Vlugt, der schon gemeinsam mit Jan Gerko Wiebenga 1922 den streng sachlichen Bau der Technischen Fachschule in Groningen realisiert hatte. Brinkman und van der Vlugt übernahmen die Planung, Wiebenga wurde für die Statik beigezogen; dazu kam als Entwurfsarchitekt Mart Stam, der nach Hospitanzjahren bei Karl Moser in Zürich und Arnold Itten in Thun gerade in seine niederländische Heimat zurückgekehrt war. In der Schweiz hatte sich Stam mit der Zeitschrift «ABC» als Verfechter eines radikalen Konstruktivismus in den Avantgarde-Zirkeln Gehör verschafft. In Holland setzte Stam seine publizistische Tätigkeit fort und polemisierte 1926 in der Zeitschrift «i10» gegen den Monumentalismus einer repräsentativen Architektur. Der missionarische und selbstherrliche Impetus, den Stam auch bei seiner Entwurfstätigkeit an den Tag legte, führte - wie zuvor schon in Karl Mosers Büro - zum Konflikt: 1928 wurde er von seinen Rotterdamer Auftraggebern entlassen.

Dennoch ist die Grundidee des Baukomplexes wohl massgeblich von Stam bestimmt worden. Dieser besteht aus dem zu einem Riegel zusammengefassten, sich nach Norden abstufenden Ensemble von Tabak-, Kaffee- und Teefabrik, das durch die hervortretenden Treppenhäuser rhythmisiert wird. Pilzstützen aus Beton tragen die Decken der Geschosse, die Längsfronten sind als gläserne Vorhangfassaden ausgebildet. Der Betriebsablauf war nach dem Prinzip der Schwerkraft organisiert - die Rohprodukte wurden auf die obersten Ebenen befördert und durchliefen auf dem Weg nach unten diverse Bearbeitungsstationen. Die verglasten Fachwerkkonstruktionen der Förderbänder, welche Fabrik und Lagerhaus in verschiedenen Winkeln und auf unterschiedlichen Ebenen verbinden, avancierten gleichsam zum Signum des Gebäudes. Stam hatte sie, wie die ihm zugeschriebene Perspektive beweist, noch seinem orthogonal-rationalen Entwurfsschema untergeordnet; Brinkman & van der Vlugt nutzten sie als expressive Elemente. Auch das konkave Verwaltungsgebäude, das in elegantem Schwung zwischen Werktor und Fabrik vermittelt, und die wie eine Kommandobrücke auf dem Dach der siebengeschossigen Tabakfabrik placierte Tee-Probierstube können als Modifikationen der ersten Entwurfsidee gelten.

Design statt Tabak

Nach mehrfachen Veränderungen des Produktspektrums sowie unternehmerischen Takeovers gelangte Van Nelle schliesslich in den Besitz des Konzerns Sara Lee - Douwe Egberts. 1985 fiel der Entschluss, den Betrieb in der historischen, seit 1982 unter Denkmalschutz stehenden Van-Nelle- Fabrik bis 1998 einzustellen. Für 20 Millionen Gulden wechselte der Komplex im März 1998 den Besitzer - neuer Eigentümer ist seitdem ein Konsortium, das sich aus der Baufirma Kondor Wessels, dem Developer POB und dem für das Betriebskonzept verantwortlichen Unternehmen Property Conversion zusammensetzt. Damit war der Weg frei für die Umnutzung des Produktionsstandorts als «Design Factory», in der unterschiedliche Unternehmen der Kreativwirtschaft zusammenfinden - Grafiker, Werber, Filmproduzenten, Architekten. Unter der Leitung des Architekturbüros Wessel de Jonge arbeiteten drei Teams an einer denkmalgerechten Umnutzung der früheren Fabrikhallen. Dank einer Struktur aus Glaskojen gelang es, die Hallen zu unterteilen und gleichzeitig die historische Curtain-Wall zu erhalten.

Nachdem die Restaurierung nun weitgehend abgeschlossen ist, liegt ein umfangreiches, opulent illustriertes Buch vor, das die Entstehungsgeschichte und den Restaurierungsprozess hervorragend dokumentiert. Umfassend aufgearbeitet wurde aber auch die Firmengeschichte, wobei der Person Kees van der Leeuws besondere Aufmerksamkeit gilt. Van der Leeuw war eines der führenden Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft in den Niederlanden; dank seinen Kontakten errichteten Brinkman & van der Vlugt einen theosophischen Tempel in Amsterdam sowie Bauten für das «Star Camp» in Ommen, einen Versammlungsplatz des von der Theosophin Annie Besant 1911 gegründeten und mit Jiddu Krishnamurti als spirituellem Leiter aufgebauten «Order of the Star in the East». Von van der Leeuws Architekturbegeisterung zeugt auch die Tatsache, dass er 1931 zu Richard Neutra nach Los Angeles reiste und es ihm ermöglichte, ein Experimentalhaus zu errichten. Als «VDL Research House» trug es die Namen seines Stifters.

Im Rahmen von Führungen ist die Van-Nelle- Ontwerpfabriek für die Öffentlichkeit zugänglich. In Zukunft soll zudem ein Informations- und Besucherzentrum über die Geschichte des Gebäudes informieren. Doch schon jetzt lohnt der Besuch auch dann, wenn man Brinkman & van der Vlugts Meisterwerk kennt: In einer der Lagerhallen am Ufer hat das Nederlands Architectuur Instituut in diesem Herbst eine Dépendance für die Modellsammlung und ein Restaurierungsatelier eröffnet. Eine Klimabox von 600 Quadratmetern beherbergt 400 Architekturmodelle - darunter die Maquetten für den Noord- Oost-Polder von Aldo van Eyck oder Rem Koolhaas' Wettbewerbsbeitrag für die Bibliotheken des Pariser Universitätscampus Jussieu. Einmal im Monat steht das «Open Maquettedepot» Interessierten offen.

[ Van Nelle. Monument in progress. Hrsg. Anne Mieke Backer, D'Laine Camp und Matthijs Dicke. Uitgeverij de Hef Publishers, Rotterdam 2005. 294 S., Euro 69.90. ]

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at