Bauwerk

Dachgeschosswohnung in Berlin
GRAFT - Berlin (D) - 2004

In Schwung gebracht

Eine Wohnlandschaft wie aus dem Musterbuch Verner Pantons: fließende Räume, skulptural ausgebildete Wandelemente und außergewöhnliche Materialien bilden eine eigene Welt in einem ausgebauten Dachgeschoss eines Mietshauses im Zentrum Berlins.

10. März 2006 - Falk Jaeger
Ein eigenartiges futuristisches Ambiente, in dem die Schwimmerin Sandra Völker und Gregor Gysi sich gegenübersitzen und in der ARD-Gesprächsreihe »Szene-Wechsel« über Lampen- und Wahlfieber, über Alltagsstress und Zukunftspläne plaudern. Kippende Wände, eine Treppe in der Untersicht, rechts eine Sitzmulde mit gewagt orangeroten Kissen, ab und zu rückt die Regie ein rätselhaftes ovales Becken mit grünlichem Wasser ins Bild. Der Zuschauer vermutet eine Wanne, in der eine Badenixe außerhalb des Bildes offenbar munter planscht, denn der Wasserspiegel schwappt wie bei Windstärke drei, wovon sich der Politiker jedoch nicht irritieren lässt, die Schwimmerin ohnehin nicht. Die filmreife Wohnung in James-Bond-Manier liegt im Dachgeschoss eines unauffälligen Mietshauses im Berliner Szeneviertel Prenzlauer Berg, das in mancher Hinsicht das Westberliner Kreuzberg abgelöst hat.

Der Bauherr kommt aus der Filmbranche. Er hat von den Jungs gehört, die Brad Pitt ein Haus gebaut haben. Auch schien er einen ähnlichen Entwurf für die PR-Firma Zeal Pictures in Charlottenburg zu kennen. Folgerichtig engagierte er die drei jungen, in Braunschweig ausgebildeten Architekten, die sich frühzeitig ins Ausland abgesetzt haben und ihr Glück in Amerika suchten. In Los Angeles gründeten sie ihr erstes Büro, gestalteten Ausstellungen, Läden, Büros und schließlich Häuser. Dort haben sie sich die Hyperdosis Lockerheit und Eloquenz geholt, mit der sie jetzt auch in Deutschland erfolgreich sind.

Das »Berliner Dach« ist eine besondere Form des Dachkörpers, die bei den traufständigen Berliner Mietshäusern der Gründerzeit an- zutreffen ist. Zur Straße hin zeigt sich eine steile, etwa ein Geschoss hohe, mit Pfannen gedeckte Dachfläche, die nach einem Knick in ein sehr flaches, mit Pappe oder Blech gedecktes Dach übergeht. Genutzt wurde der Dachraum als Trockenboden und Abstellraum. Viele dieser Dachgeschosse in zentraler Lage haben sich inzwischen von staubigen Taubenparadiesen zu Luxusdomizilen gewandelt.

Billig ist der Ausbau nicht zu haben, denn oft ist der Dachstuhl marode und für das Wohnen im fünften Obergeschoss ist die Montage eines Lifts im Hinterhof angebracht.
Beim Haus in Prenzlauer Berg, einem fünfgeschossigen Bau aus der Zeit um die Jahrhundertwende mit Stuckdekor in einem verhaltenen Jugendstil, haben die Architekten die Dachkonstruktion kurzerhand abgeräumt und den Dachkörper durch einen Neubau ersetzt. Eine Stahlkonstruktion als aufgedoppelter Boden entkoppelt den Dachraum akustisch vom Haus. Bescheiden, aber für den kleinen Einkauf ausreichend, der in den Hof an die Wand des Hinterhauses gestellte Zwei-Personen-Aufzug, der die Dachwohnung andient.

Das Entree liegt also im Hinterhaus. Von hier aus erstreckt sich das Apartment über den Seitenflügel bis ins Vorderhaus. Bedingt durch das vorgegebene Treppenhaus gestaltet sich die Eingangssituation etwas verwinkelt, doch eröffnet sich ein erster Durchblick in den Salon, der sich drei Schritte weiter in voller Größe darbietet.

Dunkles Eichenparkett, mit orangerotem Leder gepolsterte Sitznischen, eine wandbreite, geschosshohe Fensterfront kommen ins Blickfeld, dann die in die Nische integrierte telegene Badewanne. Sofort wird deutlich, dass dieses Ambiente nichts mit einem konventionellen Lebensstil zu tun haben kann.

Rechts ein geländerloser »Stairway to Heaven«, der Aufgang zur Dachterrasse und Einfallstor für die Zwölf-Uhr-Sonne. Links ein Durchblick, dort öffnet sich ein weiterer Raum - oder erweitert sich der schon durchmessene? »Schlafzimmer« jedenfalls mag man den bewegten Raum nicht nennen, in dessen wiederum dynamisch geschwungener Nische ein Doppelbett Platz fand. Irgendwie sind es »Resträume«, die übrig blieben, nachdem ein vielfach abgerundeter Baukörper wie ein Möbel in den geschossweiten Raum eingestellt worden ist. Ein Körper mit geneigten Wänden und Einschnitten, der die Nebenfunktionen aufnimmt - Bad, Sauna, Gästetoilette. Seine Wände durchqueren den kubischen Raum, seine amöboide Fußspur durchschneidet den orthogonalen Grundriss, läuft in den wenig mehr als flurbreiten Seitenflügel und schwingt in den Raum des Vorderhauses, um auch dort einen eingestellten Körper zu bilden.
Die runden Formen verbinden alle Funktionen miteinander, dem offenen, fließenden Raumkonzept entspricht das offene Lebenskonzept des Bauherrn. Trotzdem lassen sich die Räume bei Bedarf durch Schiebewände separieren, der Schlaf- vom Wohnbereich, das Bad vom Schlafraum. Auch können Büro und Einliegerwohnung abgetrennt und vermietet werden, da sie vom Haupttreppenhaus aus separat zugänglich sind.

Der schmale Verbindungsraum des Seitenflügels wurde für die Küche und den Essplatz genutzt. Dieser transitorische Bereich hat einen eigenen, fast höhlenartigen, dämmerigen Charakter. Während sich im Wohnbereich die Wand auflöst, hinterleuchtete Nischen und Regalfächer bildet und die Raumgrenzen verunklart, erscheint die Küchenwand hart und undurchdringlich. Hier sind die Trockenbauwände grau gestrichen und poliert. Sie korrespondieren mit dem Küchenblock, der Spüle aus Beton und dem Boden aus ebenfalls grauer Ausgleichsmasse. Die Einbaumöbel, melaminbeschichtet, ergänzen den Edel-Look aus preiswerten Materialien.
Die Räume im Vorderhaus erscheinen dagegen wieder hell und weit, öffnen sich auf ganzer Breite über die vorgelagerte Terrasse, die den vorgeschriebenen Brandüberschlagsabstand gewährleistet, zum Straßenraum. Hier ist die Küche im inneren Block untergebracht, in den auch der Kamin eingeschnitten ist. Weitere Durchbrüche bieten Ausblicke aus der Badewanne in den Schlaf- und Wohnbereich.

Biedermeierliches Wohnen scheint hier nicht möglich, das dynamische Raum- und Designkonzept antizipiert ein ganz anderes Lebensgefühl. Eine neue, eigene Welt tut sich beim Eintreten auf und bietet einen Fluchtpunkt, Entspannung, Loslösung vom Alltag, je nach Laune und Bedürfnis. »Graft« bedeutet pfropfen, etwas Neues, Fremdes auf einen alten Stamm setzen, und dies ist auf dem Dach des Gründerzeithauses in Prenzlauer Berg buchstäblich geschehen.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

Akteure

Architektur

Bauherrschaft
Dirk Fabarius

Tragwerksplanung