Bauwerk

Haus Kroskal
Richard Kauffmann - Tel Aviv (IL)
Haus Kroskal, Foto: Margit Ulama

Schürzen und Schatten

Die zentralen Stadtteile von Tel Aviv, der „Weißen Stadt“ imNahen Osten, entstanden in den dreißiger Jahren. Vom Verfall bedroht, werden diese Bauten heute unter schwierigen Bedingungen renoviert.

26. Oktober 1996 - Margit Ulama
Tel Aviv ist eine junge, erst am Beginn dieses Jahr-hunderts gegründete Stadt. Die Entwicklung ging vom osmanischen Jaffa aus und erstreckte sich zuerst auf das Gebiet im Nordosten entlang des Meeres. Hier bot sich genügend Raum für eine neue Besiedelung. Das Photo des Gründungstreffens aus dem Jahr 1908 zeigt eine dichtgedrängte Menschengruppe inmitten von weiten Sanddünen. Durch die verschiedenen Einwanderungswellen nahm die Bevölkerungszahl von Tel Aviv rapide zu und stieg in den dreißiger Jahren von 50.000 auf 150.000. Während sich in Europa die wirtschaftliche und politische Situation immer mehr zuspitzte, entstand im Nahen Osten eine komplett neue Stadt, die erste hebräische Stadt. Und während in Deutschland die Nationalsozialisten die avantgardistische Architektur diffamierten, manifestierten sich hier die Ideen der Moderne in einer Ausdehnung, die in Europa keine Entsprechung hat.

Die Gründung von Tel Aviv war mit den utopischen Hoffnungen der Gründung einer „neuen Gesellschaft“ verbunden, die die moderne Architektur visualisieren sollte. Diese hatte zudem die Funktion, die jüdische Identität in Abgrenzung zur arabischen Bevölkerung zu stärken.

Die historischen Photos zeigen Einzigartiges: in unmittelbarer Nähe des Meeres neu angelegte Straßenzüge und helle, drei- bis viergeschoßige Appartementhäuser in knappen Abständen. Die weiten, in kurzer Zeit entstandenen Wohngebiete, wie sie auf Luftaufnahmen zu sehen sind, wirken frisch und neu, die Aufbruchsstimmung der damaligen Zeit unmittelbar ausdrückend.

Die Qualität der einzelnen Bauten reichte zwar nicht an jene der herausragenden europäischen Beispiele heran; dafür faszinieren die Wohngebiete auf Grund ihrer Ausdehnung und der alltäglichen, lebendigen Atmosphäre auch heute noch - trotz des schlechten Zustandes der meisten Bauten. Die städtebauliche Struktur trägt zu dieser Atmosphäre bei, sie beruht auf einem gelockerten, differenzierten Raster, bei dem die Hauptstraßen deutlich von den Nebenstraßen, die nur der Erschließung dienen, unterschieden sind.

Obwohl die Stadt in den dreißiger Jahren mit großem Enthusiasmus entstanden ist, ging in Israel das Bewußtsein von der Besonderheit dieser Entwicklung mit den Jahren verloren. Dies ist auch ein Grund für den schlechten Zustand der Bausubstanz. Erst in den achtziger Jahren wurde die Tradition der Moderne wiederentdeckt, und Anfang der neunziger Jahre präsentierte eine Ausstellung des Instituts für Auslandsbeziehungen in Stuttgart und des Architekturmuseums der TU München die Tel Aviver Moderne der europäischen Öffentlichkeit.

Obwohl die Architekten aus unterschiedlichen Ländern immigriert waren, entwickelte sich eine spezifische Ausprägung der Moderne, die in ihrer Vielfalt ein einheitliches Stadtbild ergab. Ein Wohnhaus von Salomon Liaskowski und Jacov Ornstein am östlichen Rand des zentralen Stadtgebietes zeigt einen zwar schlechten, doch einigermaßen originalen Zustand. Die abgerundete Balkone stellen für Tel Aviv typische Elemente dar, ebenso die auskragenden Betonplatten darüber, die der Verschattung dienen. Die Syntax der Einzelteile in der abgestuften, expressiven Fassade hebt sich jedoch von den übrigen Bauten ab.

In den Rundungen von Ge-bäudeecken und Balkonen zahlreicher Häuser zeigt sich der Einfluß Erich Mendelsohns, der nach seiner Emigration aus Deutschland 1933 auch große Komplexe wie das Regierungskrankenhaus in Haifa oder das Hadassah-Krankenhaus auf dem Mount Scopus in Jerusalem ausführte, der in Tel Aviv aber nicht baute. Die abgerundeten Gebäudeecken, halbkreisförmigen Gebäudeteile und Balkone blieben über die Jahre als Spezifikum erhalten. Die von der europäischen Moderne übernommenen Elemente wurden aber dem Klima angepaßt; so verlängerte man häufig die Balkonbrüstungen als sogenannte Schürzen zur stärkeren Schattenbildung nach unten. Die auf diese Weise entstandenen schmalen Öffnungen zwischen den Balkonen geben den Häusern einen wehrhaften Charakter, sie evozieren da und dort auch Bunkerhaftes. In vielen Fällen wurden diese charakteristischen Öffnungen im Lauf der Zeit zur Vergrößerung des Wohnraumes geschlossen, was die Erscheinung der Häuser massiv beeinträchtigt.

Ein Beispiel für eine völlige Entstellung ist das Haus Engel von Ze’ev Rechter. Bei dem 1933 errichteten Gebäude, das einen Innenhof dreiseitig um-faßt, machte sich der Einfluß von Le Corbusier insofern bemerkbar, als der Gebäudeteil am Rothschild-Boulevard - als Neuerung in Tel Aviv - auf Pilotis schwebte, um den Hof für die kühlenden Meereswinde zu öffnen. Nicht nur diese typische freie Erdgeschoßzone ist heute zugemauert, auch die Balkone an der Stirnseite sind geschlossen, und der ursprünglich helle Verputz ist mittlerweile sehr dunkel. Die helle Oberfläche brachte die Vorsprünge und das Überlappen der verschiedenen Volumen an der Fassade aber erst deutlich zum Ausdruck. Rechter gehörte zu den prominenten Architekten, die im britischen Mandatsgebiet Palästina wirkten. In der Ukraine geboren und in Rom und Paris ausgebildet, wurde er besonders von Le Corbusier beeinflußt, der neben Mendelsohn und dem Bauhaus als Vorbild für die damalige Entwicklung fungierte.

Eine weitere zentrale Figur dieser Zeit war der aus Deutschland immigrierte Richard Kauffmann, von dem städtebauliche Planungen im Sinne der Gartenstadtidee für Tel Aviv, aber auch für Jerusalem stammten. In der 3000 Jahre alten Stadt entstand nach Kauffmanns Konzept von 1922 der Stadtteil Rehavia, dessen moderne Bauten auf Grund der von den Briten festgelegten Bauordnung jedoch mit Stein verkleidet wurden und der sich heute als zentral gelegener, wohlhabender Wohnbezirk mit üppiger Vegetation präsentiert. Kauffmanns Haus Kroskal in Tel Aviv zeigt typische Elemente der dortigen Moderne. Es ist eines der noch seltenen Beispiele für vorbildhafte Renovierungen, bei der man Klimaanlagen an der Fassade und später hinzugefügte Fensterelemente zur Schließung des Balkons entfernte.

Die Vordächer, die sich teilweise ganz ums Haus ziehen, schaffen mit dem Treppenturm und seinem Glasstreifen einen prägnanten Horizontal-Vertikal-Gegensatz, und die wiederhergestellten langen Öffnungen bei den Loggien zeigen die spezifische Tel Aviver Interpretation des Bandfensters, wiederum durch das Klima bedingt und zur Verschattung gedacht. So spürt man an dieser nicht weit vom Meer entfernten Stelle ansatzweise die ursprüngliche helle, neue Atmosphäre der Stadt, deren eng aneinandergereihte Einzelhäuser die Tradition hinter sich ließen und den von Utopien geprägten Neubeginn in ihrer Sprachlichkeit und Farbigkeit symbolisierten.

Renoviert wird in Tel Aviv nach anderen Kriterien und Gesetzen als in Europa. Es gibt keinen Denkmalschutz, sondern nur eine Abteilung der Stadtverwaltung, die für die Erhaltung von Gebäuden zuständig ist. Diese listet in ihrem Programm, das auch die Erlaubnis zur Aufstockung und damit eine Möglichkeit zur Finanzierung von Renovierungen regelt, 450 schützenswerte Gebäude in drei Kategorien auf. Die aufgelisteten Gebäude müssen entsprechend den Anweisungen der Stadtverwaltung renoviert werden. Ein anderes lokales Gesetz verpflichtet die Besitzer grundsätzlich, ihre Häuser zu erneuern. Doch auch wenn Gesetze existieren, gibt es zu wenige Beamte, die deren Befolgung forcieren oder kontrollieren könnten. Das Haus Engel gehört zum Beispiel in jene Kategorie des oben genannten Programms, bei der keine Aufstokkung und damit keine grundsätzliche Veränderung erlaubt ist. Doch die Besitzer entziehen sich gänzlich ihrer Pflicht, und so wird dieses Haus auch in nächster Zukunft nicht wiederhergestellt werden.

Jede geglückte Renovierung beruht letztlich auf dem besonderen Engagement einer kleinen Gruppe von Personen innerhalb der Stadtverwaltung. Bereits der Verkauf des Hauses Kroskal von der Universität an Kunstsammler, die dann auch die Renovierung finanzieren konnten, wurde von Nitza Szmuk, Mitarbeiterin der städtischen „Preservation Group“, initiiert.

Die Vorbildwirkung, die von diesem Haus ausgehen soll, macht sich langsam bemerkbar. Denn anders als in Europa stellt in Israel der schlechte Zustand der Bausubstanz die Norm dar. Die Bevölkerung sieht erst jetzt, welches Niveau eigentlich möglich wäre, die Moderne rückt allmählich wieder ins Bewußtsein.

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