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Bereits zum zehnten Mal stellt die db-Redaktion zum Abschluss des Jahres ihre Lieblingsprojekte vor – eine schöne und geschätzte Tradition. Unter dem gewohnt architekturkritischen Blickwinkel der db werden wieder höchst unterschiedliche Bauaufgaben im In- und Ausland unter die Lupe genommen: Wir schauen, wie in einem Kiefernwald an der Ostsee Musik vermittelt wird, wo das Deutsche Theater in Berlin probt, wie es sich in einem umgebauten Wohnhaus aus den 30er Jahren lebt, was das Designmuseum im schottischen Dundee zu bieten hat, und prüfen die Qualität einer Kirche mit Gemeindehaus in Karlsruhe und eines Seniorenheims bei Basel. | Redaktion

Artikel

3. Dezember 2018 Ulrike Kunkel
deutsche bauzeitung

Zwischen Kiefern, in Küstennähe

Arvo-Pärt-Zentrum in Laulasmaa (EST)

In einem Waldgebiet außerhalb von Tallinn wurde im ­Oktober das Arvo-Pärt-Zentrum eröffnet. Das niedrige, versteckt zwischen Bäumen liegende Gebäude birgt das Archiv des Komponisten, eine Bibliothek sowie einen Veranstaltungssaal und funktioniert bereits jetzt als gerne angesteuertes Ausflugsziel und als Ort der Begegnung — für Leute von nah und fern.

»Tabula Rasa«, produziert von Manfred Eicher, erschien 1984. Die Platte ­bedeutete den internationalen Durchbruch für den 1935 geborenen Komponisten, der vier Jahre zuvor aus der Estnischen Sowjetrepublik emigriert und über Wien mit einem Stipendium nach Berlin gelangt war: Arvo Pärt. »Tintinnabuli« nannte Pärt den Stil, den er in den Jahren zuvor entwickelt hatte und der seine Werke unverkennbar macht. Der Titel Tabula Rasa war programmatisch zu verstehen, denn zur Melodiestimme tritt lediglich eine zweite Stimme aus Dreiklängen, durch die der für den Komponisten typische ­glockenartige und sugges­tive Sound entsteht. Verfechtern der Neuen Musik, die gemeinhin die Abkehr von der Tonalität als Grundkonsens ansehen, war die Pärt‘sche Melodik und Harmonik stets in höchstem Maße verdächtig, zumal ihr Schöpfer noch in der UdSSR in die orthodoxe Kirche eingetreten war. Dessen ungeachtet gelang Pärt etwas, was ihnen versagt blieb: Seine langsamen und meditativ anmutenden Klänge, die von ostkirchlicher Spiritualität beseelt zu sein scheinen, sind fast populär geworden; Arvo Pärt gilt als der meistaufgeführte zeitgenössische Komponist.

Mehrere Jahrzehnte befand sich sein Lebensmittelpunkt in Berlin, bis er sich um das Jahr 2000 entschloss, in seine inzwischen unabhängige Heimat Estland, in die Gegend von Laulasmaa, 35 km westlich von Tallinn, zurückzukehren. Auch sein umfangreiches Archiv wurde zunächst dort untergebracht. Doch es stellte sich die Frage, was damit langfristig geschehen sollte.

Die Akademie der Künste Berlin, die Pärt als Mitglied aufgenommen hatte, signalisierte Interesse, aber der Komponist wünschte sich einen öffentlicheren Ort ein angesichts des notorisch schwierigen Zugriffs auf Akademie-Archivalien nachvollziehbarer Wunsch. Der Staat Estland brachte sich ins Spiel und es entstand die Idee eines »Arvo Pärt Centre«, mit dem das Land seinen prominentesten lebenden Kulturschaffenden ehrt. Als Bauplatz wählte man ein küstennahes Waldgebiet bei Laulasmaa.

»Perle statt Mammut«

Aus einem Spektrum von 71 Bewerbern waren 20 Architekturbüros 2013 zu einem Wettbewerb eingeladen worden, darunter internationale Prominenz wie Zaha Hadid, Coop Himmelb(l)au und Henning Larsen, aber auch eine Reihe estnischer Architekten. Das Rennen machte schließlich der Beitrag des spanischen Teams Nieto Sobejano, den die Jury als »humbly iconic« (demütig ikonisch) bezeichnete. »A pearl, not a mammooth« hatte die Vorgabe gelautet, und in den ­Auslobungsunterlagen fanden sich eine Reihe von Stichworten, die man im zukünftigen Gebäude umgesetzt wissen wollte, darunter: Reinheit, Einfachheit und Radikalität. Ziel sollte ein lebendiges Environment sein, kein Museum. Der Beitrag der Spanier zeigte ein organisch geformtes Gebäude inmitten der Waldlandschaft samt einem dazugehörigen Aussichtsturm. Die Fassaden des Hauptbaus waren ringsum verglast, und aus dem Volumen hatten Nieto Sobejano insgesamt 28 Höfe ausgestanzt. Zweck dieser Innenhöfe war nicht nur die Belichtung des Innern, sie dienten auch dazu, das Fällen von Kiefern zu vermeiden, und somit Architektur und Natur miteinander zu verzahnen. Im Verlauf des Bearbeitungsprozesses hat sich der Entwurf, dessen Tarnname »Tabula Rasa« auf Pärts Schlüsselwerk referiert, verändert und abermals vereinfacht, ohne dass allerdings das Grundkonzept verlorenging. Auf Initiative des Komponisten wurde der Standort leicht verschoben und die Anzahl der Höfe erheblich verringert – sie beträgt nunmehr lediglich sechs. Auch handelt es sich primär um Lichthöfe, denn die eigentlich sympathische Idee, die vorhandenen Kiefern zu erhalten, wurde aufgegeben. In den schier endlosen Kiefernwäldern Estlands dürfte das Fällen einiger Bäume zu verschmerzen sein.

Stützenwald ringsherum

Eine gute Dreiviertelstunde benötigt man mit dem Bus oder dem Auto von Tallinn bis nach Laulasmaa. In einigen Abschnitten verläuft die Straße entlang der Küste, doch die meiste Zeit führt sie durch Wälder – Besiedlung gerät kaum in den Blick, sobald man den Großraum Tallinn einmal verlassen hat.
Immer noch mitten im Wald, leitet ein Wegweiser von der Straße zum Parkplatz, und auf einem Fußweg zwischen Kiefern und Heidelbeersträuchern ­gelangt man in wenigen Minuten zum Arvo-Pärt-Zentrum. Dieses besitzt einen polygonalen Grundriss mit abgerundeten Ecken und wird von einer Dachstruktur aus Blechstreifen überfangen, die von der Eingangsseite aus gesehen leicht ansteigt und rückwärtig wieder abfällt. Durch die Einbuchtung im Süden und den Mitarbeiterparkplatz im Osten deutet sich ein Vorne und ein Hinten an, doch das äußere Tragwerk der Fassade, bestehend aus Stahlstützen unterschiedlichen Durchmessers und in unterschiedlichem Abstand gesetzt, umgibt das frei im Wald stehende Bauwerk auf allen Seiten. Die Stützen ruhen auf einem schmalen, mit sibirischer Lärche beplankten Sockel, der im Vorbereich des Cafés zu einer Terrasse ausgeweitet ist. Die verglaste Fassade tritt hinter die Stützenstruktur zurück, der obere Teil wurde ­ab­weichend vom ursprünglichen Entwurf mit dunkel gebeiztem Kiefernholz bekleidet. Optisch verbinden sich die Rundstützen mit den Baumstämmen. Die Architekten verweisen auch auf Taktstriche. Natürlich darf man diese Bezüge nicht zu direkt verstehen, denn es handelt sich bei dem filigranen, sich in die Fläche ausdehnenden Volumen, nicht – die beinahe inflationär gebrauchte Metapher sei hier noch einmal zitiert – um »gefrorene Musik«, auch wenn Nieto Sobejano in einem Ende 2017 erschienenen Katalog der Architekturgalerie Aedes Pläne ihres Gebäudes mit der Notation von Tabula Rasa überlagerten, sondern um ein eher pavillonartig wirkendes Gebilde.

Der informelle, fast fließende Charakter des Gebäudes setzt sich auch im Innern fort. Vom Foyer mit Empfangstresen gelangt man entlang der Garderobe zum Café und dem Pädagogikbereich. Geht man nach links in die Tiefe des Gebäudes, so passiert man einen kleinen Filmsaal, in dem alle halbe Stunde eine Einführung zu Leben und Werk von Pärt gezeigt wird, und weiter zu einem Auditorium mit 140 Plätzen, das regelmäßig für Konzerte, Vorträge und andere Veranstaltungen genutzt wird. Daran schließt sich südwestlich die öffentlich zugängliche Bibliothek an, von der aus man durch die Ausstellungsbereiche wieder zurück Richtung Foyer gelangt. Das eigentliche Archiv bildet das Herzstück des für die Besucher nicht zugänglichen Administrationsbereichs im Südwesten des Baukörpers.
Gegliedert und differenziert wird die Raumfolge durch die Höfe, die auf fünfeckigen Grundrissen aufbauen. Deren größter besteht aus drei zu einem Kontinuum verbundenen Fünfecken und birgt eine schlichte orthodoxe Kapelle.

Gewissermaßen die Umkehrung der eingeschnittenen Fünfecke ist der ebenfalls auf einem fünfeckigen Grundriss aufbauende und separat vor der Westseite des Gebäudes stehende Aussichtsturm, der ab nächstem Frühjahr geöffnet ist. Pärt versteht ihn als Zeichen der Transzendenz, als Symbol der Verbindung von Himmel und Erde. Steht man oben, so geht der Blick bis zum nahen Meer. Die Küstennähe prägt das Gebiet um Laulasmaa, mit dem der Komponist seit Langem verbunden ist. Zu Sowjetzeiten besaßen Komponisten und andere Vertreter der Intelligenzija vorzugsweise hier ihre Sommerhäuser. So auch Heino Eller, seinerzeit Lehrer am Tallinner Konservatorium. Er brachte Freunde und Bekannte mit in diese abgeschiedene Gegend – darunter eben auch seinen Studenten Arvo Pärt.

Die Liebe zur estnischen Landschaft mit ihren endlosen Wäldern und den fast menschenleeren Küsten war es, die Pärt bewog, in diesem Umfeld nicht nur sein Domizil zu beziehen, sondern auch das Musikzentrum mit seinem Nachlass errichten zu lassen. Und die Lage inmitten des Waldes ist es auch, die den besonderen Reiz des Gebäudes ausmacht. Das Erlebnis des Orts haben die Architekten gekonnt in Szene gesetzt. Auf die nordische Landschaft antworten sie mit einem Bauwerk, dessen organische Formen nicht zuletzt an Alvar Aalto erinnern. Man hält sich gerne hier auf, auch wenn es gar nicht viel an Exponaten zu sehen gibt; blättert in der Bibliothek in Büchern, genießt die Abendstimmung im Café und geht dann vom Duft der Kiefern umgeben zurück zum Parkplatz oder zur Bushaltestelle, um entspannt die Rückreise anzutreten.

3. Dezember 2018 Christian Schönwetter
deutsche bauzeitung

Vorhof zum Himmel

Kirchenzentrum Petrus Jakobus in Karlsruhe

In einer Stadtrandsiedlung hat die evangelische Gemeinde einen einprägsamen Ort der Begegnung geschaffen. Um einen zentralen Hof gruppieren sich eine Kirche mit wunderbarer Lichtwirkung und ein Café, das dazu beiträgt, das ruhige Viertel zu beleben. Für den neuen Stadtbaustein fand Peter Krebs genau das richtige Maß zwischen Einpassen und Zeichensetzen.

Es wirkt wie eine gebaute Trotzreaktion: Obwohl Deutschlands Kirchen seit Jahren sinkende Mitgliederzahlen vermelden müssen, leisten sie sich immer wieder ambitionierte neue Gotteshäuser. Was auf den ersten Blick unvernünftig erscheinen mag, entspringt jedoch häufig einer nüchternen Logik des Sparens. So auch in der Karlsruher Nordweststadt, einer sehr ruhigen, sehr grünen, sehr aufgelockerten Nachkriegssiedlung, in der anno 2010 zwei schrumpfende evangelische Gemeinden zusammengelegt wurden: Petrus und Jakobus. Ihre beiden Kirchen waren in die Jahre gekommen und hätten eine aufwendige Sanierung erfordert. Weil sie zudem heutigen Vorstellungen eines zeitgemäßen Gottesdienstes nicht mehr entsprachen, wurden beide abgebrochen und das eine Grundstück verkauft, um auf dem anderen ein modernes Kirchenzentrum finanzieren zu können. Der Neubau ist nun exakt auf den Bedarf der fusionierten Gemeinde zugeschnitten: ein einladender Ort mit niederschwelligen Angeboten an das Quartier – und mit einem Kirchenraum, der genau jenen sakralen Charakter zeigt, der vielen protestantischen Räumen der Nachkriegszeit fehlt. Entworfen hat ihn der Karlsruher Architekt Peter Krebs.

Geschickt nutzt das Kirchenzentrum die Vorteile seines Standorts. Es liegt am Walter-Rathenau-Platz, der so etwas wie die Mitte des Wohnviertels darstellt: Zweimal pro Woche findet hier ein kleiner Markt statt. Die Petrus-Jakobus-Gemeinde betreibt daher ein Café, das allen Interessierten offensteht. So wird das Kirchenzentrum stärker belebt, umgekehrt bietet es aber auch einen attraktiven Treffpunkt für das Quartier und sorgt für ein bisschen Leben auf dem Platz, wenn kein Markt stattfindet.

Kirche und Gemeindehaus mit Café bilden eine bauliche Einheit, eine langgestreckte Raumspange, die dem Platz eine klare Kante nach Süden gibt. Dachflächen, die mehrfach abknicken und die Neigung wechseln, verleihen dem Gebäudeensemble eine markante Silhouette und erzeugen exakt das Maß an formaler Eigenständigkeit, das nötig ist, um das Kirchenzentrum als Sonderbaustein im städtischen Gefüge zu kennzeichnen. Die Fassaden aus geschlämmtem Sichtmauerwerk halten das Ganze gestalterisch zusammen. Natürlich sind sie nur vorgeblendet, doch der übliche Eindruck einer steinernen Tapete stellt sich hier nicht ein. Schwere Stürze über Fenstern und Türen machen das Prinzip von Tragen und Lasten anschaulich und geben – gepaart mit großen Laibungstiefen – den Wänden einen Ausdruck von Massivität, Ruhe und Beständigkeit. Ein sympathisch handwerkliches Erscheinungsbild wiederum erhält die Gebäudehülle durch die weiße Schlämme, welche die Ziegel mal stärker, mal weniger stark durchscheinen lässt. Gleichzeitig korrespondiert sie mit den verputzten Wohnbauten der Umgebung.

Gestaffelte Raumschichten

Vom Platz aus tritt man durch eine Pfeilerreihe zunächst in einen Vorhof, der Kirche und Gemeindehaus verbindet. An seiner Rückseite gibt er gleich wieder den Durchgang zur angrenzenden Wohnbebauung frei. Diese Möglichkeit der Durchwegung trägt wesentlich dazu bei, das Zentrum Petrus Jakobus mit dem Quartier zu verzahnen. Im Sommer bietet der Hof einen angenehmen Rahmen für Gemeindefeste. Sowohl der Kirchenraum als auch der Gemeindesaal lassen sich mit breiten Glastoren öffnen, sodass bei Bedarf eine durchgehende Fläche entsteht.

Hier kommt der gut durchdachte Grundriss zum Tragen, der sehr stringent in drei Raumschichten zoniert ist. Zum Platz hin bilden die Hauptnutzflächen ein zusammenhängendes Band aus Kirchenraum, Hof und Gemeindesaal. Es folgt eine Erschließungszone als durchlaufende Achse: Sie beginnt im Gemeindehaus als Flur, setzt sich im Hof unter einem eleganten, papierdünnen Vordach fort, das es erlaubt, trockenen Fußes hinüber zur Kirche zu gelangen, und mündet dort in einen inneren Weg, der schnurgerade bis zum Tauf­becken am Ende des Raums führt. Im Süden schließlich liegt die dritte Zone. Sie besteht aus untergeordneten Räumen – im Gemeinde­zentrum Küche, Haustechnik und Treppe, in der Kirche Sakristei und ein Andachtsraum – aufgelockert von kleinen Gartenhöfen, die mit buschartigen Ahornbäumen bepflanzt sind. Aus Kirche und Andachtsraum fällt der Blick in diese Patios, die einen Puffer zum direkt angrenzenden öffentlichen Weg und zur Wohnbebauung im Süden bilden. Da die Hofmauern bis zur Dachkante reichen und die Patios dadurch als Teil des umbauten Volumens erscheinen, wirkt das Kirchenzentrum größer als es tatsächlich ist und kann sich besser gegen die achtgeschossigen Wohnblocks in der Umgebung behaupten.

Natürlicher Materialkanon im Sakralraum

Über ein schweres Portal aus Eiche betritt man den Kirchenraum, ganz klassisch von Westen. Das Dach steigt allmählich an, um über dem Altar an der Ostseite in einen hohen Lichtraum zu münden, der diesen Bereich betont und effektvoll ausleuchtet. Sonne fällt hier – passend zum Hauptgottesdienst am Sonntagvormittag – durch Fenster in der Ost- und in der Südwand. Was ­sofort auffällt, ist die angenehme Akustik. An der Decke sorgen zarte Leisten aus Birken-Multiplex dafür, dass Töne kurz im Raum nachklingen, ohne sich in der endlosen Halligkeit zu verlieren, wie man sie etwa von gotischen Domen kennt.

Die glatt verputzten Wände tragen einen gebrochen weißen Anstrich aus antistatischer Silikatfarbe, die verhindert, dass sich Rußpartikel der Kerzen dort ablagern und mit den Jahren einen Grauschleier bilden. Am Boden liegen Platten aus hellem, grob geschliffenem Juramarmor. Als sakraler Brennpunkt setzt sich der Altarbereich mit zwei Treppenstufen vom restlichen Raum ab. Weil die Architekten auch die Prinzipalstücke entwerfen durften, wirkt alles wie aus einem Guss: Altar, Kanzel und Taufbecken bestehen aus dem gleichen Stein wie der Boden und ruhen als schwere Blöcke auf weiß gekalkten Eichengittern.

Dass die Orgel von einer der beiden Vorgängerkirchen übernommen wurde, ist ihr ihr nicht anzusehen, mit ihrer neuen weißen Lackierung passt sie sich unauffällig der Architektur an. Auch Teile der alten Kirchenfenster wurden wiederverwendet. In die Nordwand zum Platz sind zwölf kleine quadratische, rote Glasscheiben eingelassen, die aus der ehemaligen Petruskirche stammen, während sich an der Westwand über der Chorempore ein groß­flächiges, blau-gelbes Fenster aus der früheren Jakobuskirche findet. So lebt die Erinnerung an die aufgegebenen, vertrauten Gotteshäuser der beiden ­Gemeinden weiter und die Fusion schlägt sich symbolisch im Kirchenraum nieder. Wer nicht um diese Vorgeschichte weiß, wird kaum erraten, dass es sich bei den Fenstern um Spolien handelt. Sie fügen sich mit einer solchen Selbstverständlichkeit in den neuen Kirchenraum ein, als seien sie speziell für ihn geschaffen worden. Hut ab vor dieser gestalterischen Integrationsleistung!

Was hingegen den harmonischen Gesamteindruck stört, ist die Bestuhlung, die mit chromglänzenden Beinen und blauen Polstern dem Seminarraum eines Kongresshotels entstammen könnte. Der Architekt seufzt. Die Stühle waren erst kurz vor Planungsbeginn angeschafft worden, sodass die Gemeinde jetzt nicht in neue Kirchenbänke investieren wollte. Bleibt die Hoffnung, dass sie dies in ein paar Jahren nachholt.

Im Gemeindehaus auf der anderen Seite des Hofs wirken die Räume weniger sakral. Das Stäbchenparkett im großen Gemeindesaal, der sich bei Bedarf auch teilen lässt, verbreitet eine beinahe wohnliche Atmosphäre. Die eingestellte schwarze Miniküche wird für den Cafébetrieb genutzt. Stauraum für Geschirr und Ähnliches ist in Form von Einbaumöbeln in die Westwand integriert, sodass hier besonders tiefe Fensternischen entstehen, die das Bild solider Massivität der Fassaden verstärken.

Über den Hof gelangt der Besucher wieder hinaus auf den Walter-Rathenau-Platz. Lässt man nach dem Rundgang das Gesehene noch einmal Revue passieren, bleibt v. a. ein Eindruck großer Stimmigkeit im Gedächtnis haften. Nichts wirkt aufgesetzt oder manieriert, alles fügt sich mit großer Selbstverständlichkeit zueinander. Meisterhaft hält das Zentrum die Balance zwischen geschlossenem Erscheinungsbild und räumlicher Durchlässigkeit, zwischen strengem Grundriss und frei komponiertem Aufriss, zwischen Anpassen an die Wohnhäuser der Umgebung und Herausstechen als Gemeinschaftsbau. In seiner Ausgewogenheit lässt es einen ausgesprochen harmonischen Ort entstehen. Was will man mehr von einer Kirche?

3. Dezember 2018 Achim Geissinger
deutsche bauzeitung

Sicher und ausgeglichen

Seniorenwohnen »La Dunette« in Huningue (F)

Das direkt am Rhein gelegene Gebäude vermindert die Ängste vor der Aufgabe der eigenen Wohnung und vor dem drohenden Autonomieverlust beim Umzug in eine Einrichtung des Betreuten Wohnens. Die gesamte Anlage hat etwas Selbstverständliches und Unaufgeregtes und bietet damit den passenden Rahmen für ein im Prinzip doch ganz normales Leben inmitten der örtlichen Strukturen.

Wer Dominique Coulons kompromisslose Farb- und scharfkantige Geo­metriespiele kennt, wird in Huningue fast ein wenig enttäuscht sein. Die Seniorenresidenz fällt zwischen der in kubischer Formensprache gestalteten Kindertagesstätte »La Nef« und einer Reihe recht durchschnittlicher Doppelhäuser kaum ins Gewicht. Sie führt vor Augen, dass gute Architektur weniger von der ästhetischen Gestalt abhängt als vielmehr von den Angeboten, die sie macht.

Am Bedarf orientiert

Seit 1987 arbeitet die französische Ersatzkasse MSA am Wohnkonzept MARPA (Maisons d’Accueil et de Résidence Pour l’Autonomie), das älteren Menschen, die zu Hause nicht mehr gut zurechtkommen und vielleicht sogar zu verein­samen drohen, in Wohngemeinschaften ein angenehmes Umfeld, Versorgung und Geselligkeit bietet. Vorrangig für kleine ländliche Gemeinden gedacht, gibt es in Frankreich – neben ganz ähnlich gearteten Angeboten – inzwischen mehr als 200 dieser überschaubar großen, personell gut zu betreuenden Wohngemeinschaften, sieben Stück davon im Elsass.

In Huningue war dazu ein besonders langer Atem nötig: Bereits 1996 hatte der damalige Bürgermeister die Frage nach geeigneten Wohnformen für ­Senioren aufgeworfen. Nach langwierigen Untersuchungen zu Bedarf, Genehmigungsfähigkeit und Umsetzbarkeit, sogar nach einer Erhebung unter der örtlichen Rentnerschaft holte die genehmigende Regionalverwaltung das für die Agglomeration Saint-Louis als zweitrangig priorisierte Projekt endlich aus der Schublade und die Realisierung dieses Wohnangebots konnte beginnen.

Meins und Unseres

Die meisten MARPAs sind mit Rücksicht auf die eingeschränkte Mobilität vieler Bewohner ebenerdig angelegt. Im Grunde fühlen sich die Bewohner im OG aber wohler, weil sicherer, der Grad an Privatheit wird dort als höher eingeschätzt. In Huningue liegen auch deshalb – v. a. aber wegen der begrenzten Grundstücksfläche – die meisten der 22 Apartments in der Beletage. Zwei Einheiten sind mit je etwa 50 m² für Ehepaare gedacht, eine steht mit 32 m² je nach Sachlage zum Probewohnen oder als kurzfristige Unterkunft in Not­fällen bereit, die übrigen Single-Studios bieten auf rund 40 m² jeweils einen Wohnbereich samt Alkoven für das Bett, ein seniorengerechtes Bad und nahe der Küchenzeile einigen Stauraum in Einbauschränken.

Besonders angenehm wirkt ein Deckenversprung zwischen dem niedrigeren Eingang und dem höheren Wohnbereich, der beim Eintreten unterschwellig ein Gefühl von Großzügigkeit vermittelt. Die oft gehörte Kritik, man könne den Mietern doch keine kahlen Flächen und graue Böden zumuten, verblasst vor der Tatsache, dass eine ästhetische Vorgabe einen Eingriff in die persönliche Autonomie der Bewohner bedeuten würde. Schließlich handelt es sich um Mietwohnungen, wenn auch recht kleine, auf deren neutralem Hintergrund durch die mitgebrachten Möbel und Ausstattungsgegenstände ein individuelles Ambiente erst entstehen kann.

Die in den Fenstersturz eingelassenen Vorhangschienen werden dazu ebenso genutzt wie die Scheiben der kleinen Fensterchen, die von der Küchenzeile aus eine Sichtverbindung zu den Fluren ermöglichen. Dass deren Holzläden, wenn auch nach außen hin gut sichtbar dekoriert, zumeist verschlossen sind, zeugt von der Notwendigkeit einer klaren Trennung zwischen privatem Rückzugsraum und öffentlichen Bereichen.

Alle Wohneinheiten sind um einen zentralen Erschließungsbereich herum arrangiert, der über abwechslungsreiche Wege in intime Sackgassen und auf weite Plätze führt. Der allgegenwärtige rote Ton des pigmentierten Sichtbetons lehnt sich an den des in der Region häufig verwendeten Sandsteins an und wird als solcher erkannt und geschätzt. Angesichts der wolkigen Oberfläche und so mancher Ausbesserung wünscht man sich jedoch mehr schweizerisches Know-how im Umgang mit dem Material. Den spannungsreichen Perspektiven tut das jedoch keinen Abbruch, vielmehr sorgt die unsaubere Betonstruktur für zusätzliche Belebung des Spiels von Licht und Schatten, Geometrie und Material, ja, sie mildert sogar den Kontrast zu den stark geflammten Oberflächen der Sperrholzplatten, mit denen die Wohnungseingänge akzentuiert sind. Besonders angenehm ist der Tageslichteinfall durch Oberlichter – z. T. auch in den Studios –, durch Einschnitte in die Gebäudekubatur oder den im OG eingeklinkten, leider nicht als Aufenthaltsfläche konzipierten Lichthof. Natürlich gibt es einen geräumigen Aufzug, beliebter ist jedoch die offene Treppe, die Überblick über die Halle und eine Sitzgelegenheit auf dem Zwischenpodest bietet – beliebt selbst bei jenen, für die das Bewältigen der Stufen eine ordentliche Anstrengung bedeutet.

Hat die Eingangshalle mit ihren schallharten Oberflächen und der Achse, die von der Straße aus längs durch das Gebäude über die überdachte Terrasse hinaus bis zur gegenüberliegenden Rheinseite weist, einen klar öffentlichen Charakter, so verbreitet der angrenzende Ess- und Wohnbereich eine sehr angenehme Wohnzimmeratmosphäre. Eine zweiseitig belichtete Sequenz ineinander übergehender Raumsituationen lässt zwischen gemeinsamen Aktivitäten und teilnehmender Vereinzelung vieles zu. Hier wird bei der Zubereitung der Mahlzeiten geholfen, gegessen, debattiert, ferngesehen oder auch einfach nur im Sessel gelesen oder sich am Kachelofen aufgewärmt. Die Akustikdecke tut hier – andernorts selten genug zu erleben – ihren Dienst und sorgt für eine auffallend angenehme Hörsamkeit.

Stützend und sicher

Die Bewohner zahlen etwa 660 Euro im Monat für die Warmmiete und zusätzliche 450 Euro für die Pflege der üppigen Gemeinschaftsflächen, die Teleassistenz per Notrufarmband und für die sechs Alltagsbegleiterinnen, die Versorgung rund um die Uhr und auch einiges an unterhaltsamem Programm anbieten. Die Mahlzeiten werden nochmals gesondert abgerechnet. Schnell addieren sich die moderaten Preise zu Summen, die sich die Interessenten erst einmal leisten können müssen. Der bezugreiche Name des Hauses kommt nicht von ungefähr: »Dunette« bezeichnet auf Französisch die oberste Ebene des Achterdecks von Segelschiffen, auf der die ranghöchsten Passagiere untergebracht werden.

Man geht davon aus, dass sich die Bewohner im Grunde selbst versorgen können. Das tun sie z. T. auch, was die Anzahl der Stellplätze in der Tiefgarage erklärt: Einige erhalten sich ihre (Auto-)Mobilität und erledigen ihre Einkäufe motorisiert.

Alle profitieren von Computerkursen in einem eigens dafür eingerichteten Raum, von einer Frisierstube daneben, einem Bastelraum im UG, einem Gemüse-Garten und dem Pétanque-Feld am Eingang, das auch gerne von Senioren aus der Nachbarschaft genutzt wird. Der Standort könnte kaum besser gewählt sein: Hinten die Rheinpromenade, vorne eine der Hauptstraßen samt Bushaltestelle, keine drei Schritte entfernt von den parkartig angelegten Ufern eines Rhein-Kanals. Direkt nebenan bietet ein Seniorentreff diverse Freizeitbeschäftigungen an, und auch die frühkindliche Betreuungseinrichtung gegenüber findet immer wieder Anlass, mit den Kleinen auf einen Besuch ­herüberzukommen.

Auf konzeptioneller wie auf gestalterischer Ebene findet das Haus die Balance zwischen dem nötigen geschützten Rahmen, aber auch einer gewissen Durchlässigkeit, die Möglichkeiten eröffnet. Das Betreten des Grundstücks ist mit Rücksicht auf die Privatsphäre nicht unbedingt erwünscht, aber auch nicht explizit untersagt. Ein Bezug zum Außenraum ist von fast allen Stellen aus gewährleistet. Das äußere Erscheinungsbild hebt sich in seiner Klarheit zwar deutlich vom Umfeld ab, leitet aber mit der Ziegelfassade wie selbstverständlich von der Kindertagesstätte über zur Wohnbebauung. Das flirrende Bild der handgearbeiteten, stellenweise zu Mustern arrangierten Steine mildert die Schärfe der Kanten ab und gibt den Oberflächen eine erstaunliche Tiefe. Das Gefühl von Schwere und Festigkeit des Mauerwerks bleibt dabei erhalten.

Über die Verschwenkung der Felder neben den Fenstern kann man streiten; innerhalb der orthogonalen Fassadenstruktur wirken die Schrägen fremd und unnötig. In den Zimmern betonen sie jedoch die großzügige Festverglasung und geben dem Wohnraum Struktur. Beim Öffnen der Lüftungsflügel versperrt unerwartet ein Ziegelgitter den freien Blick; es bedient Sicherheitsaspekte von Einbrechen bis Hinausfallen. Der Querschnitt kann im Hochsommer kein Gefühl der Erfrischung mehr vermitteln, obwohl die mechanische Zwangslüftung übers Bad ausreichend dimensioniert ist. Auch ist die Brüstung zu niedrig, um auf ihr sitzen zu können – optisch hingegen ist das Maß richtig gewählt.

Als gute Wahl erscheint auch die Pelletheizung, die sowohl die Kita als auch das Wohngebäude versorgt. Die Fußbodenheizung in der Halle wird im OG und in den Wohneinheiten von Radiatoren ergänzt – ein gusseisernes Modell, das in angedeutetem Vintage-Design Bekanntes und Gewohntes anklingen lässt.
Die ersten Anzeichen fortschreitender Aneignung verträgt das Gebäude sehr gut. Einige Pflanzen haben den Weg in Flure und Hallen gefunden wie auch das eine oder andere Kunstwerk. Es gibt viel Solidarität unter den Bewohnern, man schaut nacheinander und unterstützt sich nach Kräften. So manchem hat der Einzug ins Achterdeck zu mehr Selbstständigkeit im Alltag verholfen, zu neuer Energie – Würde.

3. Dezember 2018 Martin Höchst
deutsche bauzeitung

Wohldosierte Öffnungen

Wohnhausumbau in Windisch (CH)

Ein solide errichtetes Wohnhaus der 30er Jahre mit zwei abgeschlossenen Wohnungen zu einem großzügigen Raumgefüge für eine vierköpfige Familie zu wandeln, ist keine spektakuläre Bauaufgabe, sollte man meinen. Umso beeindruckender zeigt sich der Umbau in Windisch von Wülser Bechtel Architekten, der die vorgefundenen Qualitäten trotz geänderter funktionaler Anforderungen nicht nur bewahrt, sondern unter Einsatz recht radikaler Mittel sogar noch steigert.

Die Klosterzelgstraße in Windisch – eine Gemeinde mit knapp 7 000 Einwohnern im Kanton Aargau – zeigt sich als durchgrünte Sammelstraße eines Wohngebiets mit gepflegten Vorgärten und ebensolchen Ein- bis Zweifamilienhäusern aus den 20er bis 60er Jahren. An der Straße findet sich auch das 1964-68 entstandene geradlinige Gebäudeensemble der Höheren Technischen Lehranstalt von Bruno und Fritz Haller. Mittlerweile fungiert das prominente Bauzeugnis als Teil des Campus der Fachhochschule Nordwestschweiz am Standort Windisch.

Beiläufig eigenständig

Der gläsernen Architektur mit großem Namen gegenüberliegend, fällt am Haus mit der Nummer 13 im Vorbeigehen nichts Ungewöhnliches auf. Der radikale Umbau des vormaligen Zweifamilienhauses zu einem äußerst großzügigen Raumgefüge für eine vierköpfige Familie ist von außen nur zu erahnen. Bei genauem Hinsehen gibt es an Dach und Putzfassaden Anzeichen dafür, dass sich gegenüber dem weitestgehend erhaltenen Originalzustand des 30er-Jahre-Hauses etwas verändert hat. Das dicker als zuvor gedämmte Dach wurde mit der immer noch produzierten Sorte der schon zur Zeit der Fertigstellung eingesetzten Biberschwänze neu gedeckt. Die Erhöhung des Dachaufbaus ein wenig zu verunklären, gelingt durch eine zusätzliche farbliche Gliederung der Trauf- und Ortgangbretter. Je eine relativ große kupferbekleidete Dachgaube auf beiden Seiten des Satteldachs besetzt einen Teil der zuvor weitgehend ungestörten Dachflächen. Leicht zum First hin gekippt und – mittlerweile nachgedunkelt – im Farbton des Ziegeldachs wirken die beiden Körper trotz ihrer Dimension geradezu unauffällig. Besonders die Gaube zur Straße, vermeintlich fensterlos, wirkt abstrakt und gibt dem aufmerk­samen Passanten ein Rätsel mit auf den Weg.

Ebenso eigenständig wie die Gestaltung der Dachaufbauten fällt auch der Umgang mit der nahezu komplett originalen Reibeputz-Fassade aus. Nach nur kleinen Ausbesserungsarbeiten am Putz wurde die Fassade zunächst im blassen Kupferton der neu lackierten Fensterläden gestrichen. Ein zweiter »oberflächlicher« Anstrich, bei dem die Vertiefungen des Putzes ausgespart blieben, erfolgte in einem dazu komplementären grüngrauen Farbton, der sich wiederum aus dem Farbton der erhaltenen Fenstereinfassungen aus Werkstein ableitet. Durch die so realisierte Zweifarbigkeit des Anstrichs soll nach der Vorstellung der Architekten die Tiefenwirkung des Putzes gesteigert werden, ein Effekt, der sich im Ergebnis wohltuend subtil zeigt. Eher unmerklich treten auch einige veränderte Fensteröffnungen in Erscheinung: Bei vergrößerten bzw. verkleinerten Fenstern kamen statt der ansonsten aus­getauschten weißen Holzfenster fassadenbündige Festverglasungen mit Aluminium-Abdeckleisten zum Einsatz. (Teil-)Schließungen von Fenstern erhielten eine Ausfachung aus Sichtmauerwerk in Fassadenfarbe. Insbesondere das Bild eines deutlich ablesbar zugemauerten Fensters verstört zwar zunächst ein wenig, doch dank der dabei erhaltenen sichtbaren Fenster­umrandungen bleibt die ursprüngliche Fassadengliederung nach wie vor weitgehend wirksam.

Werterhaltend

Ein entscheidender Grund für den Erwerb des Hauses, bei dem Architekt Nicolaj Bechtel den Hausherrn bereits beratend zur Seite stand, war die ungewöhnlich gut erhaltene Originalsubstanz des Gebäudes – äußerlich wie auch im Innern: Parkett und Bodenfliesen hoher Qualität, eine gut erhaltene Holztreppe und eine Heizung, die noch ein paar Jahre hält. Darüber hinaus bot das Innere viel Tageslicht und sehr viel Platz – allerdings verteilt auf zwei ­abgeschlossene Drei-Zimmer-Wohnungen und ein zur Hälfte ausgebautes DG. Es galt also auf der einen Seite, den vorhandenen hohen Wert des Hauses (monetär wie ästhetisch) zu erhalten und weiter zu nutzen und auf der anderen, dem Wunsch der Bauherren nach möglichst offenem Wohnen zu entsprechen. Daraus folgte das radikale Gestaltungskonzept der Architekten des maximalen Erhalts des Vorhanden und der Lesbarkeit aller Veränderungen.

Konsequenter konnte die gewünschte offene Verbindung der Räume zuein­ander im Ergebnis kaum ausfallen: Am zuvor abgeschlossenen Treppenhaus wurden sowohl die Wände (samt Wohnungstüren) als auch der Holzverschlag zur Dachbodentreppe entfernt, beinahe jede Wand des EGs erhielt vergrößerte oder zusätzliche raumhohe Öffnungen – abgesehen vom WC alle ohne Türen. Besonders prägend zeigt sich die Ent­fernung von gut zwei Dritteln der Decke zwischen EG und OG über dem heutigen Essplatz.

Im EG (anders als im weniger stark veränderten OG mit den Kinderzimmern) wandelte sich so der ursprüngliche Grundriss mit einem innenliegenden Flur in eine Raumabfolge, die einen über einen Rundkurs wieder an seinen Ausgangspunkt zurückführt. Je nach Bezug der Räume zueinander fallen dabei die Wandöffnungen mal schmaler oder aber gleich raumbreit aus. Die Vergrößerung oder Schließung von Fensteröffnungen betont in den unterschiedlichen ineinander übergehenden Raumbereichen jeweils Hauptrichtungen und Ausblicke. Die verkleinerten Fenster des OGs im doppelt hohen Raum stellen zudem einen gewisse Intimität sowohl für den Essplatz als auch die Galerie her.

»Sollbruchstellen«

Neue Öffnungen und Verbindungen erfordern Einschnitte in die Substanz und ziehen Folgen für Oberflächen und Statik nach sich. Wie also umgehen mit einer Lücke zwischen Parkett und Fliesenbelag, an deren Stelle zuvor noch eine Wand stand? Kaschieren oder Rekonstruieren kam für die Planer nicht in Frage, ganz im Gegenteil. Die Fehlstellen wurden so simpel wie möglich wieder funktionstüchtig gemacht. Zementspachtel füllt die Löcher am Boden, notwendige Unterfangungen zeigen sich als einfache Stahlkonstruktionen.

Diese Vorgehensweise reicht so weit, dass sämtliche Wand- und Deckenoberflächen – von noch vorhandenen Holzpaneelen über Raufasertapeten bis hin zu den Stirnseiten der mit exaktem Schnitt durchtrennten Wände – lediglich einen durchgängigen, weißen Anstrich erhielten. Der latent durch solche Ruppigkeit auftretende Rohbaucharakter findet seinen Gegenpart in den geradlinigen und scharfkantigen Holzeinbauten aus Birkensperrholzplatten. Zusammen mit den Eichenholzlaibungen der vergrößerten Fensteröffnungen sorgen sie durch ihre Materialität und Präzision für das nötige Maß an Aufgeräumtheit zwischen all den »Sollbruchstellen« und geweißten Texturen.

Holz prägt auch das DG, das Refugium der Eltern. Der große offene Bereich am Austritt der Treppe, der bis unter den First eine imposante Höhe entwickelt, gibt Aufschluss über die von außen betrachtet vermeintlich fensterlose Gaube: Tageslicht fällt hier über das verglaste schmale Gaubendach ein. Geradezu meditative Atmosphäre herrscht dadurch im Raum, dessen nahezu sämtlichen Wand- und Deckenflächen mit Birkensperrholz beplankt sind. Dieses Material setzt sich auch in den Regalen des begehbaren Kleiderschranks fort. Nur durch ihn hindurch, jeweils über schmale Durchlässe, sind Bad und Schlafzimmer zu erreichen. Der insze­nierte und konsequent türlose Weg durch den »Schrank« mündet im lichten Schlafraum der Eltern mit der zweiten Gaube, deren garagentorgroße, in einem Stück festverglaste Öffnung den Ausblick auf Windisch gewährt. Auch hier bleibt das, was vorgefunden wurde, stets im Blick: Statt die Sparren im Bereich der Öffnung zu entfernen, ließ man sie als eine Art Filter stehen, der zwischen offen und geschlossen, zwischen alt und neu vermittelt.

3. Dezember 2018 Anke Geldmacher
deutsche bauzeitung

Schauspielwiese

Probebühnenzentrum des Deutschen Theaters in Berlin

Passend zu seiner Funktion hält sich das neue Probebühnenzentrum des Deutschen Theaters in Berlin eher im Hintergrund. Drei übereinander gestapelte Bühnen nutzen die begrenzte Fläche gut aus und bieten den Theaterschaffenden Raum zur Entfaltung. Gleichzeitig vermittelt der Baukörper geschickt zwischen den Bauten der Umgebung.

Theater sind repräsentativ und oftmals opulent gestaltet: Schmuckreiche Fassaden, Vorplatz, großer Eingang, Foyer, viel Tamtam. So auch beim ­Deutschen Theater (DT) in Berlin, erbaut 1849-50 von Eduard Titz. Die dazugehörigen Probebühnen führen ein Dasein in zweiter Reihe. Sie liegen versteckt und sind kaum zu finden – von einem großen Vorplatz und großem Aufsehen ganz zu schweigen. Aber das brauchen sie ja auch nicht. Im Grunde ist das neue Probebühnenzentrum des Deutschen Theater wie eine Souffleuse: Es hält sich verdeckt am Bühnenrand, aber ohne gerät das Stück ins Stocken. Hier spielt die Musik, bevor auf der großen Bühne der Vorhang fällt. Hier werden Texte gelesen, Bühnenbilder ausprobiert und natürlich die Stücke geprobt. Dazu kommt der beachtliche Teil an Lager und Logistik: Um dem anspruchsvollen Theater­publikum ausreichend Abwechslung bieten zu können, wechseln die Stücke innerhalb einer Spielzeit mehrfach munter durch. Mit nur einem Stück, das über die gesamte Saison gespielt wird, kann sich kaum ein Haus mehr sehen lassen – schon gar nicht in der Hauptstadt mit annähernd 100 Spielstätten. Dadurch müssen Kulissen häufig auf- und abgebaut sowie gelagert werden. Zudem benötigt das Theater einen Ort, an dem Bühnenbilder entwickelt und ausprobiert werden können. Das muss nicht zwangsweise in direkter Nachbarschaft passieren, doch je näher dies zur Spielstätte ist, desto komfortabler und einfacher gestalten sich die Arbeitsabläufe. Das neue Probebühnenzentrum des DT bietet genau diesen Komfort und führt erstmals den gesamten Probenbetrieb des Theaters an einem zentralen Ort zusammen.

Anspruchsvolle Nachbarschaft

Der Weg dahin war nicht unbedingt einfach. Als die Architekten Gerkan, Marg und Partner 2010 im Rahmen des Wettbewerbs das geforderte Raumprogramm durchgingen, lautete eine der zentralen Fragen: »Wie soll das alles in den engen Hof passen?« Das Platzangebot war nicht nur begrenzt, zudem galt es, den verschiedenen Traufhöhen, Baustilen und nicht zuletzt dem Denkmalschutz gerecht zu werden. Das Theater liegt in der historischen Friedrich-Wilhelm-Stadt in Berlin-Mitte. Der für das Probenzentrum vorgesehene Hof grenzt an den Campus der Charité sowie an das von Carl Gotthard Langhans erbaute Tieranatomische Theater und seine Erweiterungsbauten. Die Architekten setzten auf klare Linien und Strukturen und gingen das Ganze recht pragmatisch an. An den Größen der nachzubildenden Bühnen – zweimal die große Bühne des DT, einmal die kleine Bühne der Kammerspiele – war nicht zu rütteln, ebenso wenig am Standort. Sie stapelten die Bühnen aufeinander und ordneten die Nebenräume in zwei schmaleren Gebäudeteilen an den Seiten an. Die L-Form fasst den Hof ein und bildet nun eine klare Grenze zur Nachbarbebauung, jedoch ohne sich abzuschotten. Die unterschiedlichen Gebäudehöhen vermitteln zwischen dem 25 m hohen Hauptteil und den Traufhöhen des Tieranatomischen Theaters und der Hofbebauung. Steht man direkt davor, wirkt der Neubau durchaus groß, die Staffelung in der Höhe und Tiefe nimmt ihm aber seine Wucht und lässt ihn angemessen und maßstäblich erscheinen. Unterstützt wird dies zusätzlich von den vertikalen Fensterbändern, die den Blick förmlich nach oben ziehen. Längsstreifen machen schlank, das gilt auch in der Architektur.

Der Zugang erfolgt entweder über den Bühneneingang des DT oder über eine kleine unscheinbare Zufahrt von der Luisenstraße. Dieses »Nadelöhr« war während der Bauphase auch der einzige Weg für Baustellenfahrzeuge und führte im Vorfeld zu Bedenken. Den eher praktisch veranlagten Bauleuten machte das aber scheinbar wenig aus; quasi über Nacht stand ein großer Bagger im Hof – wie der dorthin kam, wissen die Architekten bis heute nicht. Von der Luisenstraße und vom Tieranatomischen Theater aus hat man als Außenstehender Gelegenheit, zumindest einen kleinen Blick auf das Gebäude zu erhaschen. Etwas versteckt liegend, weckt es die Neugier beim Betrachter – man weiß nicht so recht, was sich hinter den geschlossenen Putzfassaden mit den wenigen, akzentuierenden Fensterbändern abspielt. Die helle Putzoberfläche passt zum einen gut in die Umgebung und freut die Denkmalschutzbehörde, zum anderen bildet sie einen edlen, neutralen Rahmen. gmp bezeichnen sie daher als Passepartout für das denkmalgeschützte Ensemble. Einen Kontrast bildet die hinterlüftete Sockelfassade: Hier kam robuster Betonwerkstein zum Einsatz, da dieser Bereich stärker beansprucht wird. Die anthrazitfarbenen Fertigteile sind ebenfalls vertikal ausgerichtet und wechseln sich mit Glasflächen und dunklen Toren ab.

Im östlichen Gebäudeteil befindet sich die Anlieferung mit einem 3 x 6 m großen Lastenaufzug. Dieser verteilt Material und Kulissen auf die entsprechenden Bühnen oder in die Lagerflächen. Im EG befinden sich neben der kleinen Probebühne der Kammerspiele auch das Zwischenlager, Tischlerei, Schlosserei, Malwerkstatt und Näherei. Das DT verfügt über eine große Tischlerei und eine Schlosserei an einem externen Standort, die kleineren Werkstätten vor Ort erledigen das Tagesgeschäft und können spontane Reparaturen übernehmen. Im Gegensatz zu den eher geschlossen Obergeschossen verfügt das EG über großflächige Öffnungen. So hell, aber auch so öffentlich haben die Werkstattmitarbeiter vermutlich noch nie gearbeitet. Anfangs war dies wohl etwas gewöhnungsbedürftig, inzwischen schätzt man aber das Tageslicht und freut sich darüber, dass man nicht wie andernorts in den Keller verbannt wurde. Dies wäre auch gar nicht möglich, da das Gebäude über kein UG verfügt.

Keller im 3.OG

Ursprünglich war ein Keller für Technik und Lagerräume vorgesehen. Wegen des hohen Grundwasserspiegels wäre dafür aber eine Grundwasserabsenkung erforderlich gewesen. Dies hätte rund ein Drittel des Gesamtbudgets verschlungen. Also musste eine andere Lösung gefunden werden. Weiter in die Höhe zu gehen war nicht möglich. Ursprünglich waren die zwei großen Probebühnen gleich hoch und mit Schnürboden geplant. Dabei handelt es sich um den Raum über der Bühne, wo die Seile befestigt sind, an denen Kulissen herabgelassen und hinaufgezogen werden können. Der Bauherr zeigte sich – wie im gesamten Planungsprozess – sehr kooperativ und entschied sich zugunsten der Lagerfläche gegen einen zweiten Schnürboden. Der »Keller« befindet sich nun im 3. OG und wurde zwischen den beiden großen Bühnen ins Tragwerk versetzt. Dieses Lagergeschoss ist 3 m hoch und überspannt die große Bühne. Die mittlere Bühne verfügt daher »nur« über eine Gitterdecke, an der aber ebenfalls Gegenstände befestigt werden können.

Werkstattcharakter

Bis auf die Höhe und die geringere Größe der Kammerspielbühne sind alle drei Probebühnen gleich ausgestattet: Hochwertiger Bühnenboden, Wandbekleidungen aus Multiplex, darüber schwarze Heraklithplatten für die Raumakustik sowie umlaufende schwarze Vorhänge und ­eine schwarze Gitterdecke bzw. der Schnürboden der oberen Bühne. Alle Bühnen verfügen über eine Drehscheibe, wie sie auch auf den Originalbühnen eingebaut ist. So lassen sich die Bühnenbilder unkompliziert bewegen und die Abläufe während der Aufführung originalgetreu ausführen. Aus Kostengründen sollte zunächst auf eine der Drehscheiben verzichtet werden, eine großzügige Spende des Fördervereins ermöglichte auch die dritte. Die beiden großen Bühnen verfügen zudem über eine umlaufende Galerie für Scheinwerfer und Tontechnik. Viele Probebühnen sind große schwarze Räume, in denen man schnell die Tageszeit und den Außenbezug vergisst. Hier sorgen die schmalen, vertikalen Fensterbänder für Tageslicht. Besonders beliebt sind die Fenster auch, um sich zwischendurch eine Zigarette anzuzünden, wenn es beim Proben einmal emotionaler wird. In den Räumen ist der Nutzer der Chef: Mit nur wenigen Handgriffen lässt sich der helle Raum mit freien Holzoberflächen und Tageslicht in eine fast völlig schwarze Umgebung verwandeln, die sich gestalterisch zurücknimmt. Die Wände müssen robust sein, da oft geschraubt, gehämmert und getackert wird. In der bereits vorhandenen Probebühne 1 in einem der Nebengebäude des DT sind die Wände mit OSB-Platten bekleidet. Diese reißen leicht aus und sehen schnell nicht mehr schön aus. Multiplex war hier eine verhältnismäßig günstige und attraktive Alternative. Sollten die Platten irgendwann zu abgenutzt sein, können sie einfach abgeschraubt und ausgetauscht werden. Wie praktisch, dass sich die Holzwerkstatt nur wenige Meter entfernt befindet.

Insgesamt sind die Räume sehr flexibel und funktional. Sie bieten Nutzern viele Möglichkeiten, ordnen sich unter und unterstützen die Kreativität der Theaterschaffenden. So wurden z. B. die Teeküchen und Garderoben, die sich auf jeder Etage befinden, vom DT selbst ausgestattet. »Wir haben uns bemüht, ein sehr stabiles Haus zu bauen, das dies alles aushält. Das Deutsche Theater ist nicht zimperlich mit dem Gebäude und darf das auch«, sagt Architekt Christian Hellmund zum gewollten Werkstattcharakter. Aufgrund der Materialien und der klaren Gestaltung ist das Probebühnenzentrum eine vergleichsweise schicke Werkstatt.

In den Treppenhäusern rückten die Architekten ein wenig vom Werkstatt­charakter ab: Hölzerne Brüstungen und roter Boden verleihen ihnen ein elegantes Erscheinungsbild. Die Farbe kommt nicht von ungefähr: Bodenbeläge, Wandfarben und Innentüren sind im Corporate Design des DT festgelegt und gelten auch für das Probebühnenzentrum. Dies unterstreicht die Wert­schätzung und zeigt, dass der Neubau eben doch etwas mehr als ein Funktionsbau ist.

3. Dezember 2018 Dagmar Ruhnau
deutsche bauzeitung

Schatzkästchen aus Beton

Victoria and Albert Museum in Dundee (GB)

Dass Dundee in Schottland liegt, muss man seit dem 16. September wohl nicht mehr erklären. An diesem Tag öffnete das Victoria and Albert Museum Dundee, und seitdem strömen die Massen in die Stadt zwischen Edinburgh und Aberdeen. Nach drei Wochen wurde bereits die 100 000. Museumsbesucherin gezählt – eine Einheimische. Bilbao-Effekt? Die Architektur ist jedenfalls ungewöhnlich und rätselhaft, aber zugleich pragmatisch, alltagstauglich und v. a.: nicht überdimensioniert für die Stadt.

Das Auffälligste an dem neuen Museum ist zunächst einmal, dass es nicht auffällt. Zumindest nicht, wenn man mit der Bahn anreist. Mit vielen Renderings und PR-Bildern im Kopf sucht man von der langen Brücke über den Tay aus vergeblich das Ufer der Stadt nach einem leuchtend weißen Monolith ab. Und auch wenn man vor dem neu gestalteten Bahnhof von Flaggen mit dem V&A-Logo begrüßt wird, muss man erst gezielt an einer großen Baustelle und der mehrspurigen Straße vorbeischauen, bevor man das dazwischen merkwürdig klein wirkende, aber eigentlich nur wenige Schritte entfernte Museum entdeckt.

Die Stadt am Meer

Sicher, die Baustellenzäune werden irgendwann verschwinden und einen unverstellten Blick auf den Bau ermöglichen. Doch noch befindet sich die 8 km lange Uferzone in einem 30-jährigen Umgestaltungsprozess, der gut 1,1 Mrd. Euro kosten wird. Ein Uferweg verbindet die fünf Abschnitte vom Naturschutzgebiet über die innerstädtische Uferzone bis zum brummenden Hafen. Das V&A steht mittendrin, im Central Waterfront genannten Abschnitt. Auf diesem flachen Gelände vor der am Hügel liegenden Stadt befanden sich einst Docks; nachdem sie aufgegeben worden waren, blieben die Auffahrt auf die Straßenbrücke über den Tay – die übrigens ganz dicht am V&A vorbeiführt –, ein riesiger Kreisverkehr und ein Freizeitcenter übrig. Erklärtes Ziel der Umgestaltung ist es, die Stadt und den breiten Fluss (auch Firth of Tay genannt) wieder zu verbinden. Die Straßenführung ist nun halbwegs verträglich und definiert den neuen Park Slessor Gardens sowie diverse weitere Baufelder, auf denen bis zu sechs Geschoss hohe Bauten mit Büro-, Hotel-, Freizeit- und Wohnnutzungen entstehen werden.

Stadt und Fluss enger zu verknüpfen, war auch eine wesentliche Anforderung im Wettbewerb für das V&A, bei dem die Jury 2010 aus sechs Finalisten einstimmig den Entwurf von Kengo Kuma and Associates wählte. Ein Glücksgriff, selbst wenn Kumas Entwurf gerade nicht demonstrativ mit dem Thema Wasser spielte. Stattdessen: »Stein in Bewegung«. An der schottischen Ostküste ist mit Stürmen, Hochwasser und Nebel durchaus zu rechnen. Insofern ist die Wahl des Materials vollkommen einleuchtend – allerdings strahlt das Ergebnis nicht so durchgängig weiß wie erwartet. Mit ein Grund dafür ist die schwarz beschichtete Außenseite der gewundenen Betonwände, die hinter den schwebenden, bis zu 4 m langen Betonsteinen der Fassade zu sehen ist. Doch trägt gerade das zu ihrer Wirkung bei: Je nach Tageszeit und Wetter erscheint sie glatt oder tief zerklüftet und – wie so viele Häuser in Schottland mit Natursteinfassade – dumpf grau, warm ockerfarben oder doch glitzernd hell. Inspiration dafür bezog Kuma aus dem »Dialog von Erde und Wasser«, der an der schottischen Küste streifenförmig ausgewaschene, von Löchern perforierte Felsen hinterlässt.

Felsen? Auster? Beton-Kokon?

Ohne direkt sichtbare Fenster und Türen, mit verschiedenen Ab- und Einschnitten, die z. T. aus der Fassade herausgedreht sind, ist das Gebäude nicht einfach zu lesen. Auch deshalb sollte man sich einen Erkundungsgang um den schweren Betonbau gönnen, zwischen seinen zwei massiven Sockeln hindurch, um Kurven und Ecken, über helle und dunkle, geschützte und windige Stellen. Dabei eröffnen sich unterschiedliche Perspektiven auf Stadt, Brücken und Hafen – und schließlich entdeckt man doch den Eingang.

Ungeduldige können ihn durch eine Art Schnitzeljagd finden: Die Flaggen vor dem Bahnhof geleiten bis zu den in gleicher Weise gestalteten Plakaten vor dem »Schlupfloch« an der stadtzugewandten Ecke des Gebäudes. Wer aber das raue Äußere nicht aufgenommen hat, kann auch das geradezu heimelige Innere nicht richtig goutieren. Hier wird es plötzlich ruhig. Selbst wenn Hochbetrieb herrscht, ist die Akustik angenehm, es riecht nach Kaffee, die holzbekleideten Wände verbreiten Wärme. Kasse, Cafeteria und Shop befinden sich, großzügig verteilt, in der offenen Eingangsebene, die sich dreigeschossig auch nach oben öffnet. Mit ein, zwei Blicken ist der Innenraum erfasst. Die Treppe zeichnet die Drehbewegung der Wände nach, ein Aufzug steht mitten im Raum, oben ist es heller als unten. Es fühlt sich ein wenig an wie in einem Schiffsbauch. Diese Assoziation ist nicht zufällig, und abgesehen von der überdeutlichen Koggenform, die das Gebäude außen zeigt, finden sich auch im Innern diverse hübsche Analogien: die geschuppten, unterschiedlich gekippten MDF-Planken mit Eichefurnier, die langgestreckten Fenster, vor denen gerne mal Kinder liegen und das Wasser draußen beobachten, und der Bodenbelag aus Irischem Blaustein, in dem fossilierte Meerestiere und -pflanzen auszumachen sind. »Ein Wohnzimmer für die Stadt« wollte Kengo Kuma bauen, und das ist ihm gelungen. Enttäuschend banal allerdings wirken in diesem sorgfältig gestalteten Interieur die Verglasungsflächen im OG – zum Glück liegen sie großenteils hinter der Fassade versteckt.

Ein Tea Room von Charles Rennie Mackintosh

Außer für Sonderausstellungen kostet das Museum – wie viele in Schottland – keinen Eintritt. Man kann also kommen, sich in die Leseecke setzen, arbeiten, sogar sein Butterbrot selbst mitbringen. Als »Klassenzimmer für jedermann« in Sachen Design, wie sich das V&A seit seiner Gründung 1852 versteht, bietet es außerdem Lernräume für Kinder, Bildungsmaßnahmen für junge Erwachsene und Studenten, Design-Workshops, Designer-in-Residence-Programme und weitere Kooperationen. Entsprechend umfasst das Kuratorium, das das V&A Dundee neu gegründet und eine eigene Sammlung aufgebaut hat, u. a. die zwei lokalen Universitäten und die staatliche Arbeitsförderungs-Agentur Scottish Enterprise. Die Ausstellungsflächen nehmen den größten Teil des OGs ein. Sie erstrecken sich über beide Sockel und bestehen aus einem offenen Bereich auf der Galerie, einem Sonderausstellungsraum und den »Scottish Design Galleries«. Hier werden wechselnde Stücke mit schottischem Design aus der Sammlung gezeigt – von Schiffsbau und maritimer Infrastruktur über Zeitungen, Comics und Computerspiele bis hin zu Textil- und Möbeldesign, überraschend vieles davon direkt aus Dundee. Ein besonderes Schmuckstück der beeindruckenden Sammlung ist das Teestuben-Interieur »Oak Room« von Charles Rennie Mackintosh, das hier nach 40 Jahren im Lager originalgetreu restauriert, aufgebaut und begehbar gemacht wurde. Obwohl aus Glasgow, muss Mackintosh als berühmtester schottischer Architekt selbstverständlich hier, im allerersten Designmuseum Schottlands, vertreten sein.

Passenderweise ist Kengo Kuma gegenwärtig das sozusagen letzte Glied in einer Kette von Wechselbeziehungen zwischen Japan und Schottland: Während eines Aufenthalts in Glasgow befasste er sich intensiv mit der Architektur Mackintoshs, der sich seinerseits von japanischen ­Gestaltungsprinzipien inspirieren ließ.

Wirbelndes Tragwerk

Namhaft sind nicht nur der Architekt und die ausgestellten Designer. Bereits zum Wettbewerbsentwurf lieferte Arup die grundlegenden Ideen zur Realisierung der »verwirbelten« Form des Baus – die während der Ausarbeitungsphase lediglich etwas steiler wurde. Die Form entstand durch die Aufnahme der Richtungen aus der Hauptstraße, die senkrecht auf das Gebäude zuführt, und aus dem um ca. 25 ° dazu gedrehten, benachbarten Liegeplatz von Scotts Forschungsschiff »Discovery« (1901 in Dundee vom Stapel gelaufen). Die nach außen gekippten Wände sind über hohe Stahlbinder an zwei Betonkerne angebunden, und die Verwindungen wurden so entwickelt, dass sie sich gegenseitig stabilisieren. Mithilfe eines 3D-Modells entstanden 21 unterschiedliche Wände, die vor Ort (!) betoniert wurden und über Spannschlösser miteinander verbunden sind. Gegründet ist das Gebäude auf Pfählen, außerdem entschied man sich für eine geothermische Heizung und Kühlung mit 65 m tiefen Bohrungen – ergänzt durch eine Luftwärmepumpe auf dem Dach.

Identifikationspunkt für die Einwohner

Gut 90 Mio. Euro hat das neue Museum gekostet. Finanziert wurde es durch die Gründungspartner, die schottische Regierung und zu einem großen Teil auch aus Spenden. Der Unterhalt wird auf die gleiche Weise bestritten – für Besucher steht im Museum eine fahrbare Spendenbox bereit. Insofern hörte man von den Dundonians nicht viel darüber, dass man von dem Geld auch Krankenhäuser oder Schulen hätte bauen können, wie bei öffentlich finanzierten Bauten sonst oft geklagt wird. Stattdessen nur Lobesworte – die Bürger identifizieren sich schon jetzt mit dem neuen V&A. Auch als die Wettbewerbsergebnisse ausgestellt wurden, kamen mehr als 15 000 Neugierige, ein Zehntel der Einwohnerzahl Dundees. Explizit setzten die Initiatoren auf den »Bilbao-Effekt« – und von den ersten Wochen nach der Eröffnung ausgehend, könnte das funktionieren.

Bauwerk