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Zwischen Kunst und Konsum
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Die Passage als Ort der Vergnügung hat ihren Ursprung im Paris des frühen 19. Jahrhunderts. Ihr bürgerlicher Charakter war wohl Grund dafür, dass sie sich im höfischen Wien nie wirklich durchsetzte. Ganz anders in Prag. Ein Streifzug an der Moldau.

31. Mai 2014 - Iris Meder
Als Václav Havel, als Sohn wohlhabender Eltern dem kommunistischen Regime per se verdächtig, nicht an der Prager Filmhochschule studieren durfte, ging er als Bühnentechniker zum ABC-Theater. Die Bühne nahe dem Wenzelsplatz ist Teil eines umfangreichen Systems aus Wohntrakten über untereinander verbundenen Durchgängen mit Geschäften, Cafés, Kinos und Veranstaltungssälen. Teil des Komplexes ist die wohl bekannteste der Prager Passagen, die „Lucerna“, deren Auftraggeber 1916 Havels Großvater war.

Die Passage als Ort der Vergnügung hat ihren Ursprung in den Pariser Passagen des frühen 19. Jahrhunderts. Entstanden aus privater Bauspekulation, dienten sie dazu, tiefe Parzellen optimal zu erschließen, Querverbindungen zwischen Straßen zu schaffen und dabei Mieten von Geschäfts- und Cafébesitzern zu lukrieren. Technische Fortschritte ermöglichten die Überdachung der Durchgänge mit Glas-Eisen-Konstruktionen. Es entstanden geheizte, beleuchtete innerstädtische Habitate, verwandt mit den Wandelhallen der Kurorte, aber auch Bahnhöfen, Markthallen, Basaren: öffentliche Räume von Handel, Verkehr und Konsum, die Begegnungen harmloser wie konspirativer Natur ermöglichten. Mit einem zunehmend verstädterten Bürgertum als Voraussetzung betrat auch der Flaneur des 19. Jahrhunderts die Bühne.

Der bürgerliche Charakter des Bautyps Passage ist wohl auch der Grund dafür, dass er sich im höfischen Wien nie wirklich durchsetzte – dem von der Österreichisch-Ungarischen Nationalbank errichteten Palais Ferstel folgten neben der heute verlassenen kleinen Rotenturm-Passage nur zwei bescheidene Exemplare am Graben. Das intellektuelle Biotop Kaffeehaus bedurfte wohl der Passagen-Umgebung nicht.

Während im Paris Baron Haussmanns Großkaufhäuser gebaut wurden, entwickelten sich die Passagen in Italien und Russland zu gigantischen Konsumtempeln. Mit 100 Jahren Verspätung kam das Prinzip Passage in die böhmischen Länder. In Prag entstanden im 20. Jahrhundert rund um den Graben und den zunehmend zum Zentrum urbanen Lebens werdenden Wenzelsplatz die schönsten Exemplare. Die größten unter ihnen, wie die Jugendstil-Gesamtkunstwerke „Lucerna“ und „Koruna“, im unteren Teil des Wenzelsplatzes, verfügten ursprünglich nicht nur über Cafés, Restaurants und Kinosäle, sondern auch über Schwimm- und Schwitzbäder.

In der mit der „Lucerna“ verbundenen Passage „U Nováku“ residierte vor dem Krieg das futuristische „Befreite Theater“, das in den 1930er-Jahren immer offener gegen den Nationalsozialismus auftrat und, von der Zensur zunehmend drangsaliert, seinen Namen in „Gefesseltes Theater“ änderte. Nach der erzwungenen Schließung des Theaters 1938 emigrierten seine Protagonisten, die Schauspieler Jiří Voskovec und Jan Werich, in die USA. In der „Lucerna“ siedelte sich in den 1960er-Jahren das Theater „Rokoko“ an, in dem zahlreiche tschechische Popstars, darunter Musikprominenz des Prager Frühlings wie Marta Kubišová und Václav Neckář, ihre Karrieren begannen. Die Konkurrenz, das ebenso legendäre „Semafor“-Theater, spielte ein paar Häuser weiter in der 1927 in elegantem Funktionalismus erbauten „Alfa-Passage“, die in den 1930er-Jahren auch das surrealistische „Neue Theater“ aufnahm.

Der eigentliche Siegeszug der Prager Passagen begann nach dem Ersten Weltkrieg. Bauherren waren zunehmend Banken und Versicherungen wie die Riunione Adriatica, deren „Adria-Passage“ der Architekt Pavel Janák mit dem deutschsprachigen Prager Josef Zasche entwarf. Hier residierte neben einem Filmklub das „Theater vor dem Tor“, vor allem aber die legendäre Multimedia-Bühne „Laterna magika“. Die Nationalbank baute am Graben 1935 bis 1938 eine hochelegante Passage mit flachen Tonnengewölbe aus Glasbausteinen, wie es für die 1930er-Jahre typisch war. Decke und Böden aus Beton-Glas-Elementen kennzeichnen auch die der Nationalbank benachbarte, denkmalgeschützte Passage „?erná růže“ (Schwarze Rose), 1928 bis 1932 vom Architekten Oldřich Tyl gebaut und vor einiger Zeit ambitioniert restauriert. Auch die Stadt selbst sah bei Verwaltungsgebäuden Einkaufspassagen vor – so lässt sich zu Bürozeiten das Magistrat des ersten Bezirks funktionalistisch flanierend durchqueren, ebenso wie das Haus der Tschechischen Volkspartei.

Bis heute haben sich in den meisten Passagen Details wie kubische Beleuchtungskörper, vernickelte Profile, abgerundete Schaufenster, zylindrische Türdrücker, geometrisch gemusterte Mosaikböden und marmorverkleidete Brüstungen erhalten, zum Teil auch die Ausstattungen der Cafés – neben der „Lucerna-Passage“ etwa in der 1930 vom Architekten Josef Karel ?iha für eine Bergwerksgesellschaft erbauten „Komedie-Passage“, heute nach dem einstigen Star ihres Theaters „Vlasta-Burian-Passage“ genannt. Weniger bekannt als „Lucerna“, „Adria“ und „Koruna“, ist sie eine verborgene Perle in zweiter Reihe des städtischen Salons Wenzelsplatz, wie etwa auch die reizende kleine Passage „U Bumbrlička“ (Zum Pummelchen), außen funktionalistisch mit integriertem Barockportal, innen Sitz des Kindertheaters „Minor“ und daher auch „Kinderpassage“ genannt.

An Versammlungen eines konsum- und kulturfreudigen, selbstbewussten Bürgertums hatte der Sozialismus kein Interesse. Die letzte der Prager Passagen, die mit der „Alfa-Passage“ verbundene „Světozor-Passage“, entstand 1947, knapp vor der Machtübernahme der Kommunisten. Ihre städtische Funktion haben sich die Passagen auch über die Zeit des Sozialismus hinweg bewahrt. Heute sind manche geschlossen, die meisten aber nach wie vor belebt und vielfältig genutzt, elementare Bestandteile der lebendigen, sprudelnden Großstadt.

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