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Auch im Stein wohnt die Musik
Der Standard

Von Tel Aviv über Tokyo bis nach Südtirol: Neue Bücher über das Bauen, das Schauen und Sich-was-Trauen in der Architektur von gestern und von heute.

9. April 2002 - Ute Woltron
Wie immer im Frühling hat sich das ALBUM aus dem großen Orchester der neuen Architekturpublikationen ein paar Solisten herausgepickt, um sie hier kurz anklingen zu lassen.

Der erste Wohlklang erreicht uns aus Tel Aviv und Jerusalem, wo der Künstler Günther Förg mit seiner Kamera festhielt, was in den 30er- und 40er-Jahren des mittlerweile auch schon wieder vergangenen Jahrhunderts von aus Deutschland emigrierten Bauhaus-Architekten komponiert worden war. Förg fing mit seinen Momentaufnahmen nicht nur die mittlerweile klassisch-modernen Formen dieser herrlich klaren Architekturlieder ein, er dokumentierte zugleich auch die Spuren des Alters, des Gebrauchs und der dazwischen wuchernden Vegetation. Hermann Beil schreibt in seinem Vorwort: "Eine große Architektengeneration war in Tel Aviv und Jerusalem versammelt gewesen - dorthin vertrieben, aber auch dorthin gerufen (...), um für Menschen zu bauen. Und um die Musik dieser Städte in Stein zu komponieren. Günther Förgs fotografische Bilder haben die „unendliche Melodie“ dieser Architektur aufgespürt und notiert." Günther Förg, Photographs. Bauhaus Tel Aviv - Jerusalem, Hatje Cantz, EURO 35,98.

Ebenfalls durchaus melodisch, einmal streng und dann wieder verspielt, zeigt sich eine deutsche Publikation zum Thema Kunst, Foto und Bauen. In Szene gesetzt. Architektur in der Fotografie der Gegenwart, herausgegeben von Götz Adriani, Hatje Cantz, EURO 25,50, ist der Katalog zu einer Ausstellung des Museums für Neue Kunst/ZKM Karlsruhe und zeigt unkonventionelle Architekturfotografie, fein von internationalen Fotokünstlern raffiniert. Etwa Maria Hedlunds „Im Vortragssaal“ oder das hier gezeigte Foto „Halle rot“ von Josef Schulz sind sehr persönliche Interpretationen an sich simpler Themen, die, in die Zweidimensionalität gebracht, einen ganz eigenen Klang entwickeln. Schulz über seine preisgekrönten Arbeiten: „Ich versuche zu verstehen, wie die Gesetze dieser zweidimensionalen Darstellung funktionieren und was in solch einem Abbildungsprozess passiert.“ Architektur einmal nicht von den Architekturfotografieprofis eingefangen und bearbeitet zu sehen kann wirklich Spaß machen. Ralph Melcher schreibt in seinem Essay „Kunstcharakter und Künstlichkeit“ dazu: „Architektur wird zum Material des Bildes und damit auch zum Material einer immanenten Realität. Und diese ist das ursprünglichste Kennzeichen des Schöpferischen in der Kunst.“

Gleich eine ganze Fülle verschiedenster Architekturklangimpressionen liefert das Buch Customize. Review of Peripheral Architecture, Birkhäuser, EURO 39,10, in dem man sich auf die Tonspuren der Vororte, der Industriestätten und Einkaufsmeilen rund um den Globus begeben hat. Das Layout dieser kleinformatigen, vollgepackten Publikation ist eine Art visueller Vorstadt-Kraut-und-Rüben-Samplings, und das Studieren der einzelnen Beiträge und das Zurechtfinden darin ist ebenso zehrend wie das Auffinden eines ganz bestimmten Geschäftes im Geschäftsdschungel der SCS, aber bitte. Das hier aufbereitete Thema Vorstadt und Randzone ist ein derzeit - zu Recht - einigermaßen strapaziertes. „Besser maßschneidern lassen als von der Stange kaufen!“ lautet die Botschaft von Architekten und Gruppen wie Toyo Ito, njiric+njiric arhitekti, Périphériques, Lacaton & Vassal sowie gut zwei Dutzend anderen, die diesen Zonen menschlicher Konsum- und Bauwut ein intelligenteres, benutzerfreundlicheres Gefüge geben wollen. Die wüsten Fotolandschaften sind unterlegt mit diversen Texten der Architekten; man kann nur vorschlagen: Kaufen Sie sich hier durch.

Eine ruhigere Angelegenheit, quasi ein feines getragenes Largo, hat die Südtirolerin Carmen Müller mit einer ganz eigenartigen, schönen Bild-Mensch-Landschaft-Architektur-Arbeit zu Buche gebracht. Meran - Mals Vinschgau. Auf den Spuren einer stillgelegten Bahnstrecke, Folio Verlag Wien Bozen, EURO 25,70, klingt ein wenig wie Dalida und „Der Tag als der Regen kam“ und riecht wie Eisenbahnschwellen an einem heißen Sommertag. Die Autorin Müller wollte hinterfragen, „was sich auf einer Bahnstrecke von ca. 60 Kilometern verändert, über die zehn Jahre kein Zug mehr gefahren ist“, auf einem „Streifen in der Landschaft, der sich durch Obstwiesen, Aulandschaft, Wälder, Felsengelände und Tunnels schlängelt und Ortschaften miteinander verbindet und markiert“. Müller begab sich also auf eine ausgedehnte „private Recherche“ und dokumentierte den „Verwilderungszustand“, recherchierte die Geschichte dieser Bahnlinie und grub alte Dokumente aus. All diese Impressionen wurden zu einem Schau- und Leseband zusammengetragen, zu einem, wie es die Autorin nennt, „poetischen Intermezzo“, denn die Bahnlinie soll wieder saniert und in Gang gebracht und bis 2004 sogar bis nach Bozen weitergeführt werden.

Nun ein zackiger Prestissimo-Hupfer hinauf in die Niederlande und zu den dort beheimateten Architekturzeitgenossen. Das Magazin Topos hat mit dem Heft Im Blickpunkt: Niederlande. Beispielhafte Ideen und Konzepte für Stadt und Landschaft, Callwey Verlag,EURO 35,50, den Versuch unternommen, den allseits ohnehin vielbeachteten Architektur-Modellfall Niederlande noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen, und auch hier nähert man sich dem Thema über die Historie. Robert Schäfer analysiert die Geschichte und kommt unter anderem zu dem Schluss, dass die niederländische Architekturhistorie nur unter politisch wohlkomponierten Rahmenbedingungen geschrieben werden konnte: „Architektur und Stadtplanung sind in den Niederlanden ein öffentliches Thema seit den 70er-Jahren, als die Bürger mehr Mitsprache einforderten, gegen Bauvorhaben demonstrierten und leer stehende Häuser in Sanierungsgebieten besetzten. Dominierten in der Folge die sozialen und ökologischen Belange bei Planungsentscheidungen, wurde schließlich mit einer Reihe von politischen Entscheidungen der Grundstein gelegt für die kulturelle Komponente des Bauens.“ Wer also wissen will, warum die Niederländer derzeit - auch international - ziemlich oft die erste Geige spielen, der bekommt hier die Partitur dafür geliefert. Die jungen, frechen Niederländer haben es auch geschafft, die verschiedenen Disziplinen Architektur, Kunst, Design zu einem interessanten Wohlklang zu vermischen. Adriaan Geuze ist ein gutes Beispiel dafür, hier ist sein gemeinsam mit Paul van Beek erarbeitetes Freiraum-Projekt für den Amsterdamer Flughafen Schiphol abgebildet. Apropos: Auch was die Freiraumplanung anbelangt, liegt Musik in der Luft der Niederlande.

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