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Von den Aborigines lernen
Neue Zürcher Zeitung

Pritzker-Architekturpreis an den Australier Glenn Murcutt

Nach der Auszeichnung von Rem Koolhaas und Herzog & de Meuron erweist sich die diesjährige Verleihung des Pritzker-Architekturpreises an den Australier Glenn Murcutt als weniger trendy denn politisch korrekt. Murcutt machte sich einen Namen als ökologisch engagierter Einzelkämpfer, der sich für die ethische Seite der Baukunst einsetzt.

16. April 2002 - Roman Hollenstein
Etwas vollmundig bezeichnet die Hyatt Foundation den mit 100 000 Dollar dotierten Pritzker Architecture Prize, der von ihr seit 1979 jährlich verliehen wird, gerne als Nobelpreis der Architektur. Diesem hohen Anspruch vermochte er aber lange nur bedingt zu genügen. Doch nach einer Krise in den neunziger Jahren - als etwa Christian de Portzamparc statt Jean Nouvel oder der längst zum Vielbauer gewordene Norman Foster geehrt wurden - begann man ihn dank der Auszeichnung von Vordenkern wie Rem Koolhaas und Herzog & de Meuron auch in der Szene wieder ernst zu nehmen. Gespannt wartete diese daher auf den Namen des Preisträgers von 2002, der am Montag in Los Angeles bekannt gegebenen wurde.


Eine politisch korrekte Wahl

Zur Festigung ihres in den letzten beiden Jahren errungenen Ansehens standen der Pritzker- Jury mehrere valable Kandidaten zur Verfügung. Naheliegend war die Wahl eines Architekten aus den USA, die seit der Kür von Robert Venturi im Jahre 1991 nicht mehr zum Zuge gekommen waren. Mit Tod Williams und Billie Tsien, von denen so wichtige Bauten wie das Neurosciences Institute in La Jolla oder das erst das vor kurzem eröffnete American Folk Art Museum in New York stammen, mit Steven Holl, dessen Kiasma- Museum in Helsinki höchstes Lob erhielt, oder mit Jungstars wie dem Kalifornier Greg Lynn oder dem in Ägypten geborenen Wahlamerikaner Hani Rashid hätte man Anwärter auszeichnen können, deren Schaffen zurzeit weit über Amerika hinaus strahlt. Auf Grund ihrer Karriere, aber auch aus politischer Korrektheit hätte ausserdem die in London tätige Irakerin Zaha Hadid, die gegenwärtig ein Kunstmuseum in Cincinnati baut, den noch nie an eine Frau oder an eine Persönlichkeit der islamischen Welt vergebenen Preis verdient. Ebenfalls mit bedeutenden amerikanischen Projekten konnten drei weitere aussichtsreiche Anwärter aufwarten: Nouvel, Daniel Libeskind und Santiago Calatrava. Schlechter standen dagegen die Chancen für zwei nicht weniger einflussreiche Architekten, für Toyo Ito und den an der Columbia University in New York lehrenden Lausanner Bernard Tschumi, war doch der Preis bereits 1993 und 1995 nach Japan und im vergangenen Jahr in die Schweiz gegangen.

Doch keine dieser Vermutungen wurde bestätigt. Zweifellos war Political Correctness mit im Spiel, als sich die Jury, der erneut J. Carter Brown, Ada Louise Huxtable und Carlos Jimenez angehörten, für Australien entschied, den einzigen noch nicht auf der Pritzker-Liste vertretenen Erdteil. Aus der bisherigen Vorliebe der Hyatt Foundation für grosse Büros hätte man schliessen können, dass der Jury beim Blick auf den Südkontinent vor allem das urbane Melbourner Team von Denton Corker Marshall aufgefallen wäre. Doch wurde schliesslich mit dem 1936 geborenen, in Neuguinea und Australien aufgewachsenen und seit 1969 in Sydney tätigen Glenn Murcutt ein Einzelkämpfer gekürt, der mit seiner Architektur der Seele und dem Wesen Australiens nachspürt. Als diesem Verfechter eines ebenso humanen wie naturnahen Bauens 1992 die Alvar- Aalto-Medaille verliehen wurde (NZZ 11. 12. 92), sah das damalige Preisgericht in Murcutts Werk den Beweis dafür, «dass die zeitgenössische Architektur fähig ist, auf ökologische, soziale, technologische und ästhetische Herausforderungen Antworten zu finden».


«Touch this Earth lightly»

Nach baukünstlerischen Anfängen, die gleichermassen Mies van der Rohe und Alvar Aalto verpflichtet waren, fand Murcutt in der Auseinandersetzung mit der ruralen Bautradition seiner Heimat und im Dialog mit der Natur zu einer unverwechselbaren Architektur. In deren Zentrum steht das Wohnhaus als Stätte der Selbstfindung und der Selbstverwirklichung des Individuums, aber auch als Ort der Zuflucht und des Schutzes im Sinne Henry David Thoreaus. Obwohl es sich bei diesen Bauten oft um prototypische Beiträge zur Regionalismusdebatte, zur Bausoziologie und zur Umweltverträglichkeit handelt, kann das von Murcutt favorisierte Privathaus über seine Bedeutung für das meist dünn besiedelte Australien hinaus nur sehr beschränkt als Beitrag an die globale Baukultur verstanden werden. Aber auch im australischen Kontext wird Murcutts Architektur heute weniger diskutiert als noch vor 10 Jahren. Damals setzten sich Architekten wie Gabriel Poole, Lindsay Clare oder James Grose kreativ mit Murcutts Verandahäusern auseinander.

Vielfältige Bezüge zum Genius Loci prägen Murcutts Architektur, die im Erscheinungsbild bestimmt wird durch ihre Verwandtschaft mit den einfachen Unterständen der Ureinwohner, den klassischen Verandahäusern oder den Wellblechhütten. Mit ihren Holzwänden und Blechdächern erinnern diese Bauten oft an Scheunen, mitunter dominiert aber auch ein grossstädtisch elegantes Vokabular. Doch selbst bei den in Sydney errichteten Stadthäusern sind es das Tageslicht und der Sternenhimmel, die das Raumerlebnis bestimmen. Diese Beschäftigung mit der Natur zeichnet die für aufgeklärte städtische Auftraggeber geschaffenen Wohnhäuser ebenso aus wie das 1994 realisierte Marika-Alderton-Haus in East Arnhem Land, wo Murcutt für längere Zeit unter Aborigines lebte und von ihnen lernte, «to touch this Earth lightly». In der Mitte der meist auf Stahlstützen stehenden längsrechteckigen Häuser befindet sich jeweils ein grosser Wohnraum, dem sich Schlafkojen und Serviceräume unterordnen. Das eigentliche Herz aber ist die Veranda, die es erlaubt, im Freien und doch geschützt zu sein.


Mehr als eine Utopie des Buschs

Die besten Bauten realisierte Murcutt zweifellos in den siebziger bis neunziger Jahren. Damals war die Begeisterung so gross, dass Murcutts Biograph Philip Drew das 1982 in Kempsey nördlich von Sydney errichtete Museum für Lokalgeschichte als das «erste wirklich australische Gebäude» bezeichnete. Die neusten Arbeiten - etwa das vor wenigen Monaten in den Southern Highlands vollendete Bowral House mit seinem erstaunlich schwerfälligen Steinsockel - können hingegen gewisse formalistische Härten nicht verbergen. Obwohl er sich in dem 1999 mit Wendy Lewin und Reg Lark realisierten Education Centre in Riversdale einer zeitgemässeren Formensprache annäherte, dürfte sein langjähriges Beharren auf dem immer gleichen Thema mit ein Grund dafür sein, dass Murcutt heute im australischen Architekturdiskurs eher als eine Randerscheinung wahrgenommen wird. Dennoch bleibt er als soziales und ökologisches Gewissen der australischen Architektenschaft eine wichtige Figur, denn kein anderer lebt wie er dem Nachwuchs die Bedeutung einer humanen, ethisch engagierten Baukunst vor. Nicht zuletzt deswegen hat Murcutt den Pritzker-Preis verdient.

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