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Bauen ohne Nostalgie
Neue Zürcher Zeitung

Widersprüchliche Entwicklungen am Lago Maggiore

Einst zählte Brissago zu den schönsten Orten am Lago Maggiore. Doch urbanistische und architektonische Eingriffe, die in den fünfziger Jahren ihren Ausgang nahmen, beeinträchtigten das Bild des Städtchens stark. Wegweisende Neubauten von Cavadini, Snozzi und Vacchini brachten höchstens eine partielle Verbesserung der Situation.

3. Mai 2002 - Roman Hollenstein
Die Zeiten, da das Tessin in Architektenkreisen für Aufregung sorgte, sind vorbei. Nur mehr selten finden Bauten aus der Südschweiz den Weg in deutschsprachige Fachzeitschriften - wie jüngst Bottas umstrittener neuer Busbahnhof in Lugano. Sonst aber scheint sich höchstens noch die lateinische Welt - und dort vorab das architektonisch ausgezehrte Italien - für die Tessiner Baukunst zu interessieren. Während es um Altmeister Luigi Snozzi, der im Sommer seinen 70. Geburtstag feiern kann, eher still geworden ist, sorgt nun der nur ein Jahr jüngere Livio Vacchini für Aufsehen und weiss (etwa mit seinem Postgebäude in Locarno) mehr zu provozieren als die Jungen, die im Tessin gegenwärtig einen schweren Stand haben. Bedeutende Wettbewerbe für öffentliche Bauten sind nämlich selten geworden, sieht man von der Università della Svizzera Italiana (USI) in Lugano ab, wo vielversprechende Nachwuchsarchitekten ihre Gebäude vor kurzem übergeben konnten: Giraudi & Wettstein das Laborgebäude, die Brüder Tognola die Bibliothek, Lorenzo Martini den Hörsaaltrakt und Michele Christen die Theologische Fakultät. Dennoch hat sich im Dunstkreis von Architektur und Städtebau in den vergangenen Jahren einiges bewegt. Raffaele Cavadini gelang es - angeregt durch Snozzis legendäre urbanistische Umgestaltung von Monte Carasso -, den Dorfkern von Iragna mit gezielten Interventionen zu klären; und in Lugano wurde nicht nur mit dem erwähnten, städtebaulich von Aurelio Galfetti konzipierten, Alt und Neu vereinenden USI-Campus eine höchst urbane Anlage geschaffen. Es wurden auch Wettbewerbe für eine Neugestaltung der Aussenräume rund um das Rathaus und für die Renovation und Erweiterung des «Palace» durchgeführt, der nun ein weiterer für den Campo Marzio folgen könnte.


Vom «buon gusto» zur «ignoranza»

Kein Ort aber veranschaulicht die wechselhafte Tessiner Bauentwicklung so deutlich wie Brissago, wo bedeutende historische Bauten daran erinnern, dass der alte Borgo einst einer der prächtigsten am Lago Maggiore war. Umgeben von bezaubernder Natur, präsentiere er «l'aspetto di una cittadina assai civile», hielt Francesco Chiesa noch 1936 im Sopraceneri-Band der «Casa Borghese nella Svizzera» fest und fuhr fort, dass zahlreiche Bauten aus den vergangenen Jahrhunderten vom «buon gusto», dem guten Geschmack der Bevölkerung, zeugten. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Städtchen auf Grund des Immobilienbooms Opfer seiner pittoresken Schönheit. Jahrzehnte des baulichen Wildwuchses verunstalteten sein Weichbild, in welchem sich heute die baulichen Widersprüche spiegeln: Zerstörungen und kontroverse Restaurierungen, Zersiedelung und urbanistische Reorganisation, Bausünden und architektonische Meisterwerke begegnen sich hier auf engstem Raum.

Die Fehlentscheide nahmen in den fünfziger Jahren im Borgo ihren Ausgang mit der Verbreiterung der vom oleandergesäumten Muro degli Ottevi dominierten Dorfstrasse. Auf deren Südseite entstanden - gleichsam als Antithese zu den Palazzi auf dem Muro - anstelle kleiner Häuser nüchterne fünfstöckige Bauten, die nicht nur das Zentrum seines Charmes beraubten, sondern auch das städtebauliche Gleichgewicht ins Wanken brachten. Die Inschrift «L'ignoranza è la fonte di ogni male» - die Unwissenheit ist der Quell allen Übels - an einem der alten Häuser auf dem Muro degli Ottevi bringt das Problem von Brissago auf den Punkt: Ignoranz und Bauernschläue hatten aber nicht nur zur Folge, dass entlang der durch das Dorf gebrochenen Via Leoncavallo ein bauliches Chaos entstand. Sie führten auch dazu, dass man den 1970 von der Gemeinde erworbenen barocken Palazzo Branca ebenso zerfallen liess wie das einst von Europas Adel und Neureichen frequentierte Grand-Hotel, das neben der Tabakfabrik wichtigste Symbol einer frühen wirtschaftlichen Prosperität. Während aber der Barockpalast schliesslich doch noch gerettet werden konnte, opferte man das kulturgeschichtlich bedeutende Hotel der Spitzhacke.

Damit teilte das Luxushotel das Schicksal jener Gründerzeitvilla, in welcher der neapolitanische Opernkomponist Ruggero Leoncavallo sein Refugium gefunden hatte. Dass sie schon vor geraumer Zeit einem banalen Wohnblock weichen musste, hängt mit dem Immobiliendruck zusammen, der auf den Sonnenhängen zwischen den hoch gelegenen Weilern und dem Städtchen am See bis heute lastet und der zu jener «verheerenden Zersiedelung» führte, die Bernhard Anderes bereits 1975 im Kunstführer des Kantons Tessin beklagt hatte. Längst präsentieren sich die einst landwirtschaftlich genutzten Hänge als eine Halde von Villen, Terrassenhäusern und Wohnblocks, deren Anblick einzig durch das üppige Grün der Gärten gemildert wird. Aber man findet auch Neubauten von hoher Qualität: etwa ein minimalistisches, auf Stelzen ins abschüssige Gelände gestelltes Haus von Cavadini, eine Villa von Galfetti und seit gut einem Jahr ein bauliches Juwel von Michele Arnaboldi: eine Doppelvilla an der Costa di Mezzo in Incella, die sich modernistisch gibt, aber dennoch mit ihren Granitmauern, Innenhöfen und Erschliessungswegen die zentralen Elemente der alten Dorfstrukturen übernimmt und somit darauf verzichtet, im Geiste der «Tendenza» den Ort zu bauen, was ja die Verhäuselung letztlich nur forcierte.

Die markanteste Intervention an den Hängen über Brissago aber war zweifellos die von Cavadini 1998 anstelle eines alten Oratoriums realisierte kleine Kirche von Porta: ein an Sol LeWitt erinnernder Kubus aus Beton und Granit (NZZ 3. 4. 98). Das aus einer ebenso unsentimentalen wie radikalen Haltung heraus entstandene Gotteshaus fügt sich erstaunlich gut in die Gassen von Porta und öffnet sich zugleich mit seinem Aussichtsbalkon auf die grandiose Weite des Lago Maggiore. Ermöglicht wurde dieses wichtige Gebäude nicht zuletzt durch Don Annibale Berla, den langjährigen Pfarrer von Brissago, der schon vor Jahrzehnten mit der puristischen Renovation der beiden kunsthistorisch bedeutenden Sakralbauten von Giovanni und Pietro Beretta für Kontroversen sorgte. Es handelt sich dabei um die von Peppo Brivio zwischen 1953 und 1958 auf ihr hypothetisches Aussehen von 1528 zurückgeführte Madonna di Ponte, ein Hauptwerk der lombardischen Renaissance, und die Pfarrkirche, die von Luigi Snozzi 1963 restauriert wurde. Wenn Anderes 1975 vor allem die Madonna di Ponte als «in übelster Weise purifiziert» empfand, so bezeichnete die italienische Architekturzeitschrift «Abitare» ein Dutzend Jahre später die Eingriffe als «due operazioni di restauro d'avanguardia».

Es waren aber nicht diese Renovationen, sondern die unkontrollierten baulichen Veränderungen, die zur Erkenntnis führten, dass in Brissago etwas schiefgelaufen war. Bereits 1982 hatte Piero Bianconi in «Ticino ieri ed oggi» die städtebauliche Anarchie und Unordnung von Brissago beklagt, wobei ihm ein rigider Bau von Brivio an der Via Leoncavallo besonders missfiel. In einem Gebäude von Snozzi erkannte dann aber der urbanistisch und denkmalpflegerisch engagierte Architekt Tita Carloni einen «appello all'ordine». Zugleich erschien ihm dieses 1987 an der Via Leoncavallo anstelle ländlich kleiner Steinhäuser errichtete Haus, das sich zur Strasse hin als harter, schmuckloser, von zwei schlanken Pfeilern getragener Betonkubus gibt, als mögliches Vorbild für das Bauen im gewachsenen Kontext.


Akzente von Vacchini und Galfetti

Don Annibale, der Auftraggeber, wollte damals nicht nur die Kleinbauten, sondern auch die der Kirchgemeinde gehörende Casa Bianchini, ein barockes Turmhaus an der schmalen Via ai Cipressi, abreissen lassen, doch Snozzi schonte sie aus urbanistischen Gründen. Er umfasste sie auf zwei Seiten mit dem Neubau, setzte ihr ein Oktogon auf das Dach und bescherte ihr eine orangerote Fassade. Zwar blieb so der räumliche Abschluss der kleinen Gasse erhalten, doch das Denkmalobjekt erscheint seither völlig verfremdet. Wie die Casa Bianchini sensibler hätte revitalisiert werden können, zeigt der unprätentiöse Umbau der gegenüberliegenden, ein Portal von 1663 rahmenden Ökonomiebauten zu Wohnhäusern. Zwischen ihnen und dem vorbildlich renovierten und mit einem modernen Blechdach akzentuierten Palazzo Porzio-Giovanola blieb der kleine formale Garten erhalten - im Gegensatz etwa zu den historischen Orangenterrassen der im Übrigen sorgfältig restaurierten Villa Gina am See, an die nur noch einige Zitrusbäume an den Aussenmauern des in den Garten eingelassenen Hallenbades erinnern. Noch schlimmer erging es den meisten anderen Gärten des Borgo. Sie wurden zu Parkplätzen, die das enge Gassengewirr empfindlich stören, oder aber zu öden Rasenflächen wie vor dem Palazzo Branca. Dieser lange vernachlässigte Bau aus der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde jüngst von Vacchini und Silvia Gmür restauriert und beherbergt nun seit wenigen Tagen das Museo Leoncavallo. Die durch den Abbruch der zugehörigen Wirtschaftsgebäude entstandenen Resträume versuchten die Architekten durch einen fast wie ein Freilufttheater abgetreppten Aussenraum in den Griff zu bekommen. Doch nur eine gezielte bauliche Verdichtung könnte den wertvollen Bau wirklich wieder im urbanistischen Gewebe verankern.

Besser gelungen ist Vacchini die Neuordnung des städtischen Erscheinungsbildes hingegen mit dem 1999 vollendeten Wohn- und Geschäftshaus der Banca dello Stato, das als Eckbau den Südwesteingang zum Borgo neu betont. Allerdings musste ihm eine Gründerzeitvilla geopfert werden. Verbreitete diese einen Hauch von Nostalgie, so bringt der leicht überdimensionierte Neubau als moderner Verwandter des Palazzo Branca die lange gewünschte städtebauliche Klärung und verleiht mit seinem fast monumentalen Volumen den formal und stilistisch höchst heterogenen Bauten rund um die Kirche Halt. Die seeseitige Fassade löst sich auf in einem an die alten Loggien erinnernden Balkonraster, während die südwestliche Stirnseite aus Glasbändern mit balkonartigen Brises-Soleil und riesigen Schiebetüren besteht, die das Innere zur Veranda machen. Strassenseitig führt das Gebäude die anschliessenden Arkaden weiter, über denen kräftige Lisenen der Wand einen vertikalen Rhythmus geben.

Den zweiten städtebaulich wichtigen Akzent schuf Aurelio Galfetti mit dem soeben vollendeten, Villa Bianca genannten zehngeschossigen Apartmenthaus, dem am anderen Ende des Dorfes die Erweiterung des Istituto Miralago von Giovanzana Montorfani aus Lugano antwortet. Galfettis weisser Palazzo nimmt zwischen Borgo und Tabakfabrik jene Stelle ein, wo früher das Grand-Hotel stand. Das schmale, hohe, in seinen Proportionen etwas manieriert wirkende Gebäude, das 34 Luxuswohnungen enthält, öffnet sich zum See hin mit grossen Balkonen. Die durch Laubengänge erschlossene Rückseite an der stark befahrenen Strasse wird durch eine doppelte Palmenallee und eine riesige Glaswand, die entfernt an Jean Nouvels Cartier-Haus in Paris erinnert, vor Lärm geschützt. Galfetti hat mit dieser Wohnmaschine für Begüterte den ersten interessanten Beitrag zum Thema Mehrfamilienhaus seit Mario Campis Wohnpalast an der Via Beltramina in Lugano geschaffen. Er darf denn auch zusammen mit den Neubauten von Arnaboldi, Cavadini, Snozzi und Vacchini sowie einigen Restaurierungen zu Brissagos architektonischen Vorzeigeobjekten zählen. Diese können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass nun die urbanistische Verdichtung des Borgo, die Redimensionierung der Via Leoncavallo und die Gestaltung der zersiedelten Hänge die dringlichsten und für die Zukunft des Touristenortes wesentlichsten Bauaufgaben sind.

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