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Adern im Bernstein
Spectrum

Das Überraschende, das nicht Bekannte, die Lust, einen Raum in Besitz zu nehmen: „Alles andere ist nicht Architektur“, meint Volker Giencke. Der in Graz ansässige Architekt hat ein Haus der Musik für das lettische Libau entworfen.

12. Juni 2004 - Karin Tschavgova
Nicht gebaute, also nur als Zeich nung existierende Architektur be deutet dem Architekten Volker Giencke nichts. Gleichwohl er ein begnadeter Zeichner ist, kommt der mit gekonntem Strich skizzierten Idee nur eine Suchfunktion zu. Die Bleistiftzeichnung visualisiert verschiedene Stadien eines Formfindungsprozesses, sie dokumentiert Unfertiges, Verworfenes und bleibt in ihrer Bedeutung jederzeit beschränkt auf ein Werkzeug zur Gedankenschärfung und Konkretisierung.

Bauen ist Gienckes Ziel. Trotzdem entwickelt er immer wieder gewagte Visionen von Bauwerken, die in ihrer Extravaganz mehr als politische Lippenbekenntnisse und planerische Routine einfordern. Sie verlangen nicht nur die uneingeschränkte Hinwendung zur gewählten Lösung, sondern auch eine enorme Kraftaufwendung aller Beteiligten, um sie je realisieren zu können.

An der „Conzert Hall Liepaja“, Gienckes jüngstem Projekt, wird sich zeigen, ob seine Leidenschaft und sein Beharrungsvermögen ausreichend sind, um das schier Unmögliche möglich zu machen. Das ehemalige Ostseebad Libau (lettisch: Liepaja) ist mit rund 130.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Lettlands, eines der drei baltischen Staaten, die 2004 Mitglied der EU geworden sind. Libau beherbergt das einzige Symphonieorchester Lettlands, eines Landes, das seine eigenständige musikalische Tradition während der 50-jährigen Besetzung der baltischen Staaten durch die Sowjetunion kultiviert hat (bis zur gemeinsamen „Singenden Revolution“ 1991). Der internationale Wettbewerb für ein so großes Haus der Musik spiegelt gleichermaßen den Nationalstolz der Letten wie das Streben um kulturellen und ökonomischen Anschluss an die Staatengemeinschaft wider.

Der Ausschreibung als Geste mit Symbolcharakter antwortet Giencke in seinem siegreichen Projekt mit ebensolcher Zeichenhaftigkeit. Sein Entwurf schließt einen großen Konzertsaal, einen Kammermusiksaal, Proberäume, Ausstellungsflächen, Rampen, Treppen und Galerien in einen monolithischen, jedoch transluzenten Baukörper mit 115 Meter Länge ein. Die riesige Stahl-Glas-Konstruktion formt ein verzogenes elliptisches Gebilde, bernsteinfarbig, das sein Innenleben warmtönig durchschimmern lässt wie ein Aderngeflecht zu lebenswichtigen Organen. Die Letten selbst haben dem Objekt - noch ein semiotischer Verweis - die Bezeichnung „Giant Amber“, gigantischer Bernstein, gegeben. Zur Erinnerung: Baltischer Bernstein war in der Antike und davor ein so gefragter Exportartikel, dass eine eigene Handelsstraße nach ihm benannt wurde.

Die Konzerthalle soll durch einen Bau mit kommerzieller Nutzung für Büros und Administration ergänzt werden, der die laufenden Kosten des Kulturbetriebs finanzierbar macht. Der Zusammenschluss der beiden eigenständigen Teile über eine Straße hinweg erfolgt durch eine riesige Freiterrasse, fünf Meter über Stadtniveau. Als Ensemble mit solitärer Leuchtkraft wird das Bauwerk nicht nur stadtbildprägend für jene, die von der Landseite kommen, es wäre durchaus geeignet, ein neues Zentrum öffentlicher Begegnung zu werden. Seine spektakuläre, zweischalige Hülle birgt ein luftiges Volumen, das einlädt zu einer promenade spectaculaire, zu einem Durch- und Umwandern - von unten nach oben, von innen nach außen und von hell zu dunkel. Die Haut, Giencke denkt an gebogenes, gefärbtes Glas, schützt vor den Unbilden des lettischen Wetters, dem häufigen Wind und den kalten, schneereichen Wintern.

Es ist eine Architektur mit all jenen Attributen, die Giencke für unverzichtbar hält, will man überhaupt von Architektur als Baukunst sprechen. Es ist das Überraschende und nicht Bekannte, das, was neugierig macht und Lust, einen Raum zu erkunden und in Besitz zu nehmen: das Raumerlebnis. „Alles andere“, sagt Giencke mit deutlichem Seitenhieb auf Schweizer und Vorarlberger Tendenzen der reduzierten Form in der Architektur, „ist nicht Architektur.“ Das Erfüllen von Funktionen, also gute Grundrisse hinzukriegen und ökonomisch zu denken, sind Basics, die er voraussetzt, die aber für ihn noch längst nicht Architektur sind.

Volker Giencke wurde in Kärnten geboren, hat an der TU Graz Architektur studiert und gemeinsam mit Günter Domenig von 1974 bis 1978 auch an der Z-Sparkasse in Favoriten mitgearbeitet. Schon damals war er um strukturelle Klarheit und Systematik bemüht und brachte dem industriellen Bauen im Sinne Jean Prouvés Interesse und Sympathie entgegen. Seit einem Gruppenauftritt 1984 in der Publikation „13 Standpunkte. Grazer Schule“ wird Giencke dieser zugeordnet. Es ist jedoch sicher nicht die der Grazer Schule zugeschriebene Expressivität der Form, die ihn mit ihr verbunden hat. Dagegen stand sein jederzeit erkennbares Streben nach konstruktiver Logik und Stringenz. Vielmehr bilden Eigenständigkeit und Leidenschaftlichkeit den kleinsten gemeinsamen Nenner. Gienckes Entwürfe orientieren sich nie vordergründig an Moden. An Arbeit und Lehre geht der Architekt, der seit Jahren an der TU Innsbruck dem Institut für Entwerfen und dem für Hochbau vorsteht, mit Emotion, Verve und Kompromisslosigkeit heran.

Spricht Giencke vom Raumerlebnis, so zielt er nicht auf das Spektakuläre ab. Es ist nie Ergebnis eines dekonstruktivistischen Aktes der Brechung von Linien und rechten Winkeln oder der Einführung von Schrägen. Wenn diese in Gienckes Arbeiten zu finden sind, dann sind sie formgewordene Raumvorstellungen, Satzglieder einer Komposition, die spielerisch ausdrücken, was der Raum leisten muss. Die Gewächshäuser im Botanischen Garten in Graz sind eine gebaute Landschaft aus künstlichen Hügeln mit eingefügten Wegen, Rampen und hängenden Stegen. Eine Landschaft der inneren Befindlichkeit könnte die plastische Form des Red Rooms ausdrücken, der anlässlich einer Ausstellung über mönchisches Leben in Stift Seckau einen kontemplativen Rahmen für Gregorianische Gesänge abgab. Dieser meisterlichen Raumplastik, einem Low-Budget-Projekt, ist anzusehen, dass am Anfang die Vision einer Raumwirkung stand, Wollen und Sehnsucht nach einem Raum, in dem Überraschung passiert: Form ist nie Selbstzweck. Deswegen oszillieren Gienckes Arbeiten mühe- und widerspruchslos zwischen plastischer Hervorhebung und klarer geometrischer Form. Beide sind leidenschaftliche Plädoyers für Architektur.

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