Artikel

Baltischer Architekturaustausch
Neue Zürcher Zeitung

Eine Ausstellung in Helsinki

26. Juli 2004 - Roman Hollenstein
Um 1900 bescherte eine Wirtschaftsblüte den Ostseestädten Helsinki, Riga, St. Petersburg, Stockholm und Tallinn einen architektonischen und urbanistischen Boom. Eine Ausstellung in Helsinki widmet sich nun diesen Erfolgsgeschichten, aber auch dem spannenden baukünstlerischen Austausch zwischen den baltischen Metropolen.

Obwohl unter kühlen Himmeln liegend, ist Helsinki eine klassische Stadt. Dominiert wird sie von der tempelartigen Kathedrale, die Carl Ludwig Engel im frühen 19. Jahrhundert im Auftrag von Zar Alexander I. mit den Säulenhallen von Senatspalast, Rathaus, Universität und Bibliothek zu einem grandiosen Forum vereinte. Die Holzhäuser, welche zur selben Zeit innerhalb des schachbrettartigen Strassenrasters entstanden, mussten hingegen nach und nach den monumentalen spätklassizistischen Wohn- und Verwaltungsbauten von Gustav Nyström und Carl Theodor Höijer weichen. Um 1900 wurde die Stadt, die bis zum Ersten Weltkrieg als Regierungssitz des Grossherzogtums Finnland zu Russland gehörte, das Zentrum einer durch Jugendstil, Nationalromantik und Neuklassizismus bestimmten baltischen Frühmoderne. Diese strahlte bald in die anderen Ostseemetropolen aus und weckte selbst in Zentraleuropa noch Interesse. Diesem erstaunlichen Phänomen geht nun im Finnischen Architekturmuseum in Helsinki eine Ausstellung mit dem Titel «Architecture 1900» nach. Gleichzeitig beleuchtet die von einem hübschen, nostalgisch-albumartigen Katalog begleitete Schau mittels historischen Plan- und Fotomaterials, Dokumenten sowie einiger Modelle die baukünstlerische und urbanistische Erneuerung von vier weiteren durch Wirtschaftsblüte und Bevölkerungswachstum geprägten Ostseestädten: Riga, St. Petersburg, Stockholm und Tallinn.

Der Erfolg der Nationalromantik

Seinen Anfang genommen hatte der architektonische Aufbruch in Stockholm, wo - in einer Zeit der Rückbesinnung auf Vasa-Renaissance und schwedischen Barock - Ferdinand Boberg 1892 ein vom amerikanischen Neuerer Henry Hobson Richardson inspiriertes, burgartig massives Elektrizitätswerk schuf. Kurz danach vollendete dort Isak Gustaf Clason den nüchternen, nur von wenigen neugotischen Dekorationen belebten Hallwyl-Palast. Dessen Sprache wirkte sich in Helsinki auf die Wasa-Aktie-Bank von Grahn, Hedman & Wasastjerna (1899) sowie auf das von Selim Lindqvist im Geist der Chicagoer Schule konzipierte Lunqvist-Geschäftshaus aus. Selbst Höijer wich von seinem antikisierenden Vokabular ab und errichtete 1897 das in der Ausstellung gut dokumentierte Norrmén-Haus. Dieser Bau, der mit seinen Türmchen und Giebeln einen Fremdkörper in Helsinkis klassizistischer Hafenfront darstellte, musste 1960 dem sachlich-klassischen Enso-Gutzeit-Haus von Alvar Aalto weichen - was letztlich zeigt, dass in der finnischen Hauptstadt architektonisch bis heute ein klassizistischer Geist tonangebend ist.

Dennoch sollte - als fruchtbares Intermezzo - die bei Richardson und dem frühen Boberg, bei der Arts-&-Craft-Bewegung und dem Jugendstil, vor allem aber bei der finnischen Tradition anknüpfende Nationalromantik um 1900 Triumphe feiern. Als Inbegriff dieser neuen Strömung, in der sich die finnische Sehnsucht nach staatlicher Unabhängigkeit manifestierte, galt der schwere, aus Granit realisierte Pohjola-Versicherungspalast von Eliel Saarinen, Herman Gesellius und Armas Lindgren an der zentralen Aleksanterinkatu. Dieses Trio, das sich schon bald auseinander leben sollte, sowie ihm nahestehende Architekten wie Selim Lindqvist und Lars Sonck bauten Villen, Stadthäuser, ganze Wohnquartiere, Verwaltungssitze sowie das kathedralartige Nationalmuseum in diesem neuen Stil.

Strahlte der Entwurf von Soncks Kallio-Kirche bis nach Stockholm aus, wo Israel Wahlman 1906 mit der Engelbrekt-Kirche ein erstaunlich ähnliches Projekt vorlegte, so sicherten sich seine Kollegen über Wettbewerbe vermehrt auch Aufträge in Tallinn. Neben den von Lindgren und Saarinen realisierten öffentlichen Gebäuden wurden in der estnischen Hauptstadt vor allem Jacques Rosenbaums zwischen finnischer Nationalromantik und St. Petersburger Jugendstil oszillierende Bauten zu einem den Zeitgeist verkörpernden Element. Die Nationalromantik fand ihren Niederschlag aber auch im Rigaer Jugendstil von Aleksandrs Vanags sowie in den phantastischen Bauwerken des Exzentrikers Eugen Laube, während Mikhail Eisensteins lettisches Neo-Rokoko dem Petersburger Vorbild von Alexander Dmitriyev folgte. An der Newa selbst waren es Architekten wie Fredrik Lidvall und Ippolit Pretro, die unter finnischem Einfluss einen der Nationalromantik nahe stehenden Jugendstil entwickelten.

Doch diese irrational-malerische Architektur war nicht wirklich tief im nordischen Denken verwurzelt, weshalb bald rationalistische und neuklassische Strömungen dagegen anzukämpfen begannen. In Finnland entzündete sich früh schon die Debatte: Anlässlich des Wettbewerbs für den neuen Hauptbahnhof, den Saarinen 1904 mit einem nationalromantischen Projekt für sich entschieden hatte, forderte Sigurd Frosterus in einem Pamphlet eine Architektur der Vernunft. Saarinen überarbeitete daraufhin sein Projekt und schuf damit eines der ersten wirklich modernen Gebäude, das schnell zu einer Ikone der europäischen Baukunst des 20. Jahrhunderts werden sollte. Bereits vor der Vollendung dieses Bahnhofs, der des Krieges wegen erst 1919 eröffnet werden konnte, errichtete der zum Rationalisten gewordene Saarinen 1912 die wuchtige Credit-Bank in Tallinn und widmete sich danach vermehrt dem Städtebau, wie in der Ausstellung etwa seine Visionen für Gross-Tallinn (1913) zeigen.

Rückkehr zum Klassizismus

Aber nicht nur die Finnen wandten sich einem modernen Klassizismus zu, der in Soncks Bauten wohl seine eigenwilligste Ausformung erreichte. Laube verlieh 1913 dem Rigaer Hypotheken-Verein eine strenge Tempelfront, während Lidvall in St. Petersburg zur gleichen Zeit, als Behrens die Säulenfront der deutschen Botschaft baute, in seinem Tolstoi-Wohnblock vom Jugendstil zu einer fast schon die italienische Novecento-Architektur vorwegnehmenden Formensprache fand. In Stockholm schliesslich sollte Gunnar Asplund etwas später zum überragenden Meister der neuklassizistischen Moderne werden. Damit waren die baltischen Zentren weiterhin auf der Höhe der Zeit, die fast weltweit eine Abwendung von den Kapricen des Jugendstils und des Expressionismus hin zu einer rational geprägten Architektur der Ordnung sah.

[ Bis 26. August im Finnischen Architekturmuseum in Helsinki, anschliessend in Stockholm und Visby. Katalog: Architecture 1900. Stockholm, Helsinki, Tallinn, Riga, St. Petersburg. Englisch. Hrsg. Jeremy Howard. Museum für Estnische Architektur, Tallinn 2003 (ISBN 9985-9400-5-9). 127 S., Euro 26.-. ]

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: