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Licht und Schatten in der Architektur
Neue Zürcher Zeitung

Zwei Ausstellungen in Frankfurt am Main

14. Mai 2002 - Karin Leydecker
Die Frage nach dem Schatten in der Architektur steht im Zentrum einer Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt am Main. Um es gleich vorwegzunehmen: Sie gibt keine erschöpfende Antwort. Es gibt viele schöne Bilder, reizvolle Erfahrungsparcours, kluge wissenschaftliche Erläuterungen, aber der Schatten entzieht sich, sobald man fest zupacken möchte.

Physikalisch definiert, ist er nichts als ein «Loch im Licht», in dem weniger Photonen messbar sind als im umgebenden Lichtstrom. Entscheidend aber ist die Wirkung dieses «Lochs»: Schatten formen die räumliche Dimension von Architektur. Aber Schatten sind immer in Bewegung, und deshalb verändern sie die Wahrnehmung von Räumen permanent. Am eindrucksvollsten zeigt das die Photographin Hélène Binet in ihren sensiblen Schattenmeditationen rund um das Kloster La Tourette: Schatten sind Körper, und Körper sind Schatten! An Zeit und Raum sind sie gebunden, und doch sind sie flüchtige Geschöpfe des Augenblicks.

Der Revolutionsarchitekt Etienne-Louis Boullée (1728-1799) war genialer Magier dieser Schattenträume. Als «metteur de la nature en œuvre» zauberte er nach dem Credo «Je fais la lumière» unvergessliche Gefühlsmetaphern der Baukunst: Gehäuse der Stille und der erhabenen Kälte. Diese Papier-Architekturen auf der Grundlage virtuoser zeichnerischer Handwerkskunst gleichen minuziösen Zustandsbeschreibungen der Seele. Bei Giorgio Grassi, der mit sehr schönen Zeichnungen aus der Sammlung des DAM vertreten ist, klingt das «Emouvoir»-Motiv noch einmal an. Die Altmeister der Moderne - wie Mies van der Rohe oder Hans Scharoun - favorisierten den subtilen Schatten. In ihren Zeichnungen illusioniert er nicht nur räumliche Tiefe oder die Struktur der Baukörper, sondern gibt durch Frottagetechniken und zarteste Schraffuren Auskunft über die Beschaffenheit der Oberflächentexturen.

Die Moderne liebte die Sonne, nicht den Schatten. Selbst bei Le Corbusier oder Louis Kahn ist die Sonne immer Dirigentin des ihr untergeordneten Schattens. Mit zunehmender Transparenz und der Reduktion architektonischer Massivität verschwand schliesslich die Kultur des Schattens. Gleichzeitig geriet der Schatten in den Geruch des Abseitigen und Negativen. «Das Haus öffnen und gleichmässig ausleuchten», hiess nun das Ziel. Und so entstanden Gebäude des Lichts: hell und klar wie bei Richard Meier, der mit ihnen die kühle Inszenierung des Schattens als präzisen Gegenpart zum Licht feiert. Diese Überfülle des Lichts weckt nicht nur positive Empfindungen, denn für den Menschen bedeutete das ein unaufhörliches Ausgesetztsein ohne jede Chance des Rückzugs. Aber Ruhe schenkt nur der Schatten! Und so wuchs das Unbehagen um das Licht, das nur hell macht, aber nicht erhellt. Es ist ein Unbehagen, das mit der Wiederentdeckung der Gefühlswerte von Architektur zusammenhängt.

Das DAM fragte deshalb nach den «Schattensuchern» von heute und präsentiert fünfzig bekannte und weniger bekannte Architekten und Künstler mit ihren Ansätzen zu Licht und Schatten. Tadao Ando, der Meister der milden Lichträume, ist zu sehen, Mario Botta mit seinem Himmelleitertraum im Kirchlein von Mogno (Tessin) und natürlich das Jüdische Museum in Berlin von Daniel Libeskind als Metapher eines unauslöschlichen Schattens. Besonders spannend sind die ungebauten Projekte und die Entwürfe in den Randzonen zwischen Architektur, Installation und Malerei. Sie alle sprechen trotz unterschiedlichsten Motiven von einer leidenschaftlichen Sehnsucht nach den schattigen Höhlen der Geborgenheit und der kleinen Fluchten. Um das auch anschaulich zu machen, haben der Architekt Raoul Bunschoten (London) und die Lichtplanerin Ulrike Brandi (Hamburg) im ersten Obergeschoss einen Parcours der Sinne aufgebaut: «Blockwelten» zwischen kosmischem Dunkel und Bildern der Imagination: Räume im Zwielicht, Räume der scharfen Schatten und der grossen dunklen Formen unter dem Licht. Ergänzend dazu wurde der «Schattengarten» angelegt. Diese düstere Inszenierung, die einer Vision Edgar Allan Poes entsprungen zu sein scheint, zielt auf eine Schattenerfahrung im Geiste der Bauhaus- Vorkurs-Pädagogik. Hier kann man sehen, wie der Schatten gross und weich wird, wie er Objekte aufblühen lässt oder einfach im Dunkel verschluckt.

Derart auf die Erfahrung des Schattens vorbereitet, eilt man dann hinüber ins benachbarte Museum für angewandte Kunst (MAK), das Ingo Maurer (Jahrgang 1932), dem Poeten unter den Lampenerfindern, eine grosse Werkschau widmet. Seine Entwürfe sind nichts für Puristen, denn bei ihm folgt stets die Form der Phantasie. Marktgängig ist das aber auch, und deshalb trifft man in der Maurer-Schau viele gute alte Bekannte: das glühend rote Herz aus Plastik «One from the Heart» (1989), die «Lucellino»-Glühbirne mit den Gänseflügeln (1992) die Tinguely- Hommage «Bibibibi» (1982) und das leuchtende Auge von «Ilios» (1983). Hübsche Paradiesvögel mit hübschen Namen! Die neusten Entwürfe wie beispielsweise die «MaMaNouchies» aus Papier oder das «Tableau Chinois» setzen auf fernöstliche Lichttradition: «Ephemer visionär!»


[Die Ausstellung im DAM dauert bis zum 16. Juni. Katalog (Ernst-Wasmuth-Verlag, Tübingen): Euro 29.-. Die Ausstellung im MAK dauert bis zum 26. Mai. Katalog Euro 25.-.]

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