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Wiederentdeckung eines grossen Klassizisten
Neue Zürcher Zeitung

Der Tessiner Architekt Simone Cantoni

26. Oktober 2004 - Roman Hollenstein
Im Palazzo Serbelloni, der nach seiner Fertigstellung im Jahre 1793 wie kein anderes Bauwerk Mailands den Geist des liberalen Klassizismus verkörperte, nächtigten im Mai 1797 Napoleon und Joséphine de Beauharnais während ihres Aufenthalts in der lombardischen Hauptstadt. Einen Monat später, am 17. Juni 1797, besuchten sie Como, wo sie in einem anderen architektonischen Meisterwerk Wohnsitz nahmen: der direkt am See gelegenen Villa Olmo des Herzogs Innocenzo Odescalchi. Die beiden derart nobilitierten Bauwerke gelten heute ebenso wie der Palazzo Ducale in Genua oder die Pfarrkirche von Gorgonzola als Juwelen des italienischen Klassizismus. Ihr Schöpfer war der aus Muggio im Südtessin stammende Simone Cantoni (1739-1818). Trotz innovativen Bauten steht dieser grosse Architekt bis heute im Schatten Giuseppe Piermarinis (1734-1808), der als Architekt der österreichischen Verwaltung Mailands die prestigeträchtigen Aufträge für die Scala und den Palazzo Reale erhielt. Der republikanisch gesinnte Cantoni hingegen verkehrte in den aufklärerischen Kreisen der Österreich-feindlichen Eliten von Mailand und Como, die ihn mit dem Bau von Stadthäusern und Landsitzen betrauten.

Glänzende Karriere

Schon 1774 begründete Johann Caspar Füsslis «Geschichte der besten Künstler in der Schweiz» den Mythos vom Wunderkind, das früh die Heimat verlassen musste, um bei seinem Vater Pietro in Genua, wo die Cantoni seit Generationen als Architekten tätig waren, die baukünstlerischen Grundlagen seines Könnens zu erlernen. Später wurden seine Inventionen vom einflussreichen Theoretiker Francesco Milizia gewürdigt, so dass Cantoni im frühen 19. Jahrhundert höher geschätzt wurde als Piermarini - ein Urteil, das mit einem Blick auf den Geniestreich des Palazzo Serbelloni durchaus einleuchtet. Dennoch war es schliesslich Cantoni und nicht der Staatsarchitekt Piermarini, der ausserhalb von Mailand, Como und dem Tessin, wo seit den 1940er Jahren erste Studien und Monographien über ihn erschienen, in Vergessenheit geriet. Dies belegt etwa die Tatsache, dass er im 1998 veröffentlichten «Architektenlexikon der Schweiz» unerwähnt bleibt. Dabei können nur wenige Schweizer Architekten des 18. und 19. Jahrhunderts eine ähnlich strahlende Karriere vorweisen wie Cantoni.

Wegen seiner ungewöhnlichen Begabung wurde der Siebzehnjährige 1756 von Genau aus zum Studium nach Rom geschickt. Dort machte er sich mit den Bauwerken der Antike und mit der Klassik Vanvitellis vertraut. Mit dem Entwurf eines Krankenhauses konnte er 1766 den von der Accademia di Parma kurz zuvor eingeführten Architekturwettbewerb für sich entscheiden. Statt nach Genua zurückzukehren, suchte Cantoni nun in Mailand, dem aufblühenden Zentrum der italienischen Aufklärung, sein Glück. Nachdem er mit dem Palazzo Mellerio am Corso di Porta Romana eine eigenwillige Probe seines Könnens gegeben hatte, legte er 1774 die Pläne für den Palazzo Serbelloni vor. Dessen Säulenportikus nimmt - als offensichtlich bis heute unbemerkt gebliebene politische Aussage - Bezug auf die spätrömischen Kolonnaden von San Lorenzo, welche die Österreicher damals abtragen wollten.

Während der langwierigen Genese dieses bedeutenden Stadtpalastes wandte sich Cantoni anderen Projekten zu. Karrierefördernd war dabei zweifellos sein Sieg im Wettbewerb um den Neubau des 1777 abgebrannten Dogenpalastes in Genua. Dieses frühklassizistische Wahrzeichen, das Cantoni dank familiärer Zusammenarbeit von Mailand aus verwirklichen konnte, rivalisierte nach seiner Vollendung 1783 mit den legendären Barockpalästen der Hafenstadt. Obwohl man zur malerischen Ausschmückung der Säle des Maggior und des Minor Consiglio vergeblich den damals in Rom und Madrid als künstlerischer Wegbereiter umschwärmten Anton Raphael Mengs zu gewinnen suchte, entstanden im Palazzo Ducale dennoch vielbewunderte Interieurs, die ihre Fortsetzung in den Prunksälen der zwischen 1782 und 1794 realisierten Villa Olmo fanden. Zu diesem architektonischen Gesamtkunstwerk steuerte Cantonis Landsmann und Freund Domenico Pozzi olympische Freskenzyklen und Francesco Carabelli, der schon den Fries des Palazzo Serbelloni skulptiert hatte, Statuen und Cäsarenbüsten bei.

Bald konnte sich Cantoni der Aufträge kaum mehr erwehren: Wurde 1788 in Bergamo nach kurzer Bauzeit der heitere Palazzo Vailetti vollendet, so entstanden fast zeitgleich in Como die Stadtpaläste der Giovio, Mugiasca, Porro, Raimondi und Somigliana sowie Villen in der Brianza und bei Varese (darunter die monumentale Anlage der Scotti in Oreno und der neopalladianische Komplex für die Mugiasca in Mosino), aber auch Kirchen in Carate, Gorgonzola, Lomazzo, Morazzone, Ponte Lambro und im Tessiner Muggiotal. Abgesehen von diesen Sakralbauten und vom Palazzo Ducale in Genua konnte Cantoni nur wenige öffentliche Bauten errichten, darunter 1804 den Liceo von Como. Den ehrenvollen Auftrag zum Entwurf eines Pantheon degli Italiani in Mailand, den die französische Verwaltung ihm als wichtigstem Architekten der Lombardei erteilen wollte, lehnte er im Sommer 1809 aus Altersgründen ab und verwies auf seine «Schüler», von denen dann Luigi Cagnola mit einem letztlich unrealisiert gebliebenen Entwurf berücksichtigt wurde.

Cantoni hatte schon um 1795 begonnen, sich mit der Transformation seines Elternhauses in ein architektonisches Sanktuarium im heimatlichen Muggio ein Refugium zu schaffen. Vielleicht bemühte sich der für seine Zurückgezogenheit und Bescheidenheit bekannte Architekt deswegen nicht um eine Professur an der Brera, wo neben Piermarini auch der zum Arbiter elegantiarum von Mailand avancierte Luganese Giocondo Albertolli lehrte. Dennoch war Cantonis Einfluss auf jüngere Kollegen gross, so dass über Luigi Clerichetti und Giacomo Moraglia auch Lugano, das bald die Tessiner Hochburg des italienischen Widerstandes gegen Österreich werden sollte, zu vornehmen Bauten im Geiste Cantonis kam.

Vorbildliche Monographie

Nun liegt zum Schaffen von Simone Cantoni eine mit Quellenmaterialien, Gemälden, Skizzen und Plänen reich dokumentierte sowie mit neuen Farbaufnahmen von Lorenzo Mussi versehene Monographie von Nicoletta Ossanna Cavadini vor. Dank ihrer unermüdlichen Forschungsarbeit in öffentlichen und privaten Archiven sowie ihrer profunden Kenntnis der einzelnen Bauwerke gibt uns die an der Architekturakademie von Mendrisio lehrende Wissenschafterin nicht nur einen grossen Vertreter des lombardischen Klassizismus wieder. Sie versteht es darüber hinaus, ihre in einem thematisch-chronologischen Wechselspiel aufgebaute, durch viele neue Funde erhellte Werkanalyse zu einer komplexen kunstsoziologischen und gesellschaftspolitischen Epochendarstellung zu verdichten. Diese vorbildliche Publikation verhilft nicht nur einem Grossmeister des europäischen Klassizismus zu seinem Recht; sie setzt auch auf dem Gebiet der immer schnelllebiger werdenden Architekturpublizistik neue Massstäbe.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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