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Berghütten, Villen und Museen
Neue Zürcher Zeitung

Eine Blütenlese zur neusten Baukunst im Tessin

11. November 2004 - Roman Hollenstein
Architektonischer Wildwuchs entstellte in den letzten fünfzig Jahren weite Gebiete des Schweizer Mittellandes. Aber auch die zwischen Schneebergen und Palmengestaden sich weitenden Landschaften des Tessins blieben von ihm nicht verschont. Dabei wurde der ungezügelte Bauboom schon in den sechziger Jahren von den Protagonisten der «Tessiner Schule» kritisiert. Mit harten Betonbauten setzten damals Aurelio Galfetti, Luigi Snozzi, Livio Vacchini und bald auch Mario Botta oder Ivano Gianola im amorphen Häuserbrei Zeichen, die jedoch die Zersiedelung nicht bremsen, sondern höchstens ästhetisieren konnten. Gleichwohl begründete ihr formal höchst unterschiedliches Schaffen, das 1975 dank der Zürcher «Tendenza»-Ausstellung fast über Nacht zu internationalen Ehren kam, eine in den Jahren der postmodernen Popularisierung der Baukunst vielbeachtete Tradition.

Obwohl diese bekannten Meister noch immer wichtige Projekte und städtebauliche Interventionen realisieren, vernimmt man vom Baugeschehen zwischen Airolo und Chiasso nur mehr wenig. Eine Ausnahme bildete vor zwei Jahren die Erweiterung der Universität Lugano. Deren Bauten konnten dank dem Einsatz von Galfetti, dem Urheber des Masterplans, an Architekten vergeben werden, die damals noch nicht vierzig Jahre alt waren. Dieses bedeutende, entfernt mit dem Tessiner Schulbauprogramm der sechziger Jahre vergleichbare Unternehmen bildet einen Schwerpunkt in der soeben erschienenen Publikation «Tessin Architektur - Die junge Generation». Weiter präsentieren darin Thomas Bamberg und Paola Pellandini anhand von guten Farbabbildungen, knappen Texten und etwas klein geratenen Plänen rund 40 Villen, Kindergärten, Sakralbauten, Museen, Hotels und Berghütten von 24 Architekturbüros. Mit diesem Material wollen sie aufzeigen, wie in den letzten Jahren «beinahe ‹unbemerkt› eine neue Generation junger Architekten nachgewachsen ist».

Auch wenn nichts leichter ist, als eine Auswahl zu zerzausen, muss doch die Frage erlaubt sein, warum unter dem gewählten Titel das Schaffen interessanter jüngerer Architekten wie Roberto Briccola oder Britta und Francesco Buzzi übergangen wird, dafür aber (zweifellos bedeutende) Bauten der Altmeister Galfetti und Gianola ebenso zur Sprache kommen wie etwa der mittelprächtige Neubau der Architekturakademie Mendrisio, dessen Entwerfer Soliman & Zurkirchen weder aus dem Tessin stammen noch dort ihr Studio betreiben. Wäre es da nicht ehrlicher gewesen, das Buch unter dem Titel «Neue Architektur im Tessin» anzubieten und dafür auf die Behauptung zu verzichten, hier würden die jungen Tessiner Architekten erstmals umfassend porträtiert?

An der Qualität der hier versammelten Gebäude vermöchte allerdings auch ein geänderter Titel nichts zu ändern. Als überdurchschnittlich bezeichnen wird man neben den Universitätsgebäuden in Lugano die Umbauten von Pia Durisch und Aldo Nolli in Mendrisio und Claro, die Raiffeisenbank von Michele Arnaboldi in Intragna, das Kirchlein in Porta und das ethnographische Museum in Olivone von Raffaele Cavadini, die Erweiterung des Kulturzentrums «La Fabbrica» von Giorgio und Michele Tognola in Losone, die Berghütte «Cristallina» bei Bedretto von Nicola Baserga und Christian Mozzetti sowie einige eigenwillige Villen von Andrea Bassi oder Giorgio und Giovanni Guscetti. Einen spannenden Ausblick in die Zukunft bietet zudem Gianolas Entwurf für das neue Luganeser Kulturzentrum in den Ruinen des ehemaligen Hotels «Palace». Schade nur, dass neben diesem keine weiteren wichtigen Projekte vorstellt werden - beispielsweise die organisch gewellte und mit einem Fassadenschleier versehene Umhüllung des Kongresspalastes in Lugano von Sandra Giraudi und Felix Wettstein oder das «MaxMuseo» von Durisch & Nolli in Chiasso. Dieses Museum, an dem zurzeit gebaut wird, ist ein Beweis dafür, dass sich auch ausserhalb Luganos in der entlang der Autobahn ungebremst weiter wuchernden «Città diffusa» des Tessins neue kulturelle Kristallisationskerne bilden. Doch statt solche zukunftsweisende Arbeiten zu erwähnen, wird in der vorliegenden Anthologie immer wieder Platz für banale Realisationen verschwendet, die weder dieser Blütenlese noch dem Ansehen der Tessiner Baukunst gut tun.

[ Tessin Architektur - Die junge Generation. Hrsg. Thomas Bamberg und Paola Pellandini: Deutsche Verlags-Anstalt, München 2004. 160 S., Fr. 120.-. ]

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