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Stammeskunst beim Eiffelturm und Islam im Louvre
Neue Zürcher Zeitung

Seit de Gaulle hat sich jeder französische Staatspräsident auf die eine oder andere Art im Kulturbereich hervorgetan. Spätestens seit Mitterrand gilt der Brauch, sich durch «grands travaux» zu verewigen. Chirac hat den Bau eines Museums für Stammeskunst und die Schaffung einer Abteilung für islamische Kunst im Louvre angeordnet.

22. November 2004 - Roman Hollenstein
Die Verfassung der Fünften Republik - es ist ein Gemeinplatz - macht den französischen Staatspräsidenten zum sublimierten Nachfolger der Könige von einst. Wie diese als protecteurs des arts agierten, wird von jenem heute ein aktives Eintreten für Kunst und Kultur erwartet. Der besondere Platz, den la culture im öffentlichen Diskurs einnimmt, die weltweit beispiellose staatliche Kulturförderung gründen - auch - auf dieser nabelschnurartigen (und in mancher Hinsicht infantilen) Beziehung zwischen einer Nation und ihrem ersten Repräsentanten. «L'Etat c'est moi», beschied Ludwig XIV. - und noch heute identifizieren viele in Frankreich den Staat mit seinem Oberhaupt. Der Präsident ist kein auf Zeit gewählter Funktionär, sondern gleichsam der Depositär der Essenz des «Französischen». Er bekleidet eine Art laizistisches Priesteramt, dessen er sich auch im Kulturbereich als würdig zu erweisen hat.
Nachruhm durch Kunstförderung

Seit 1958 hat sich jeder Präsident dieser Aufgabe gestellt - jeder auf seine Art. Charles de Gaulle war als Schriftsteller ein Stilist von klassischer Grandeur; seine Memoiren haben die Weihen der prestigeträchtigen Bibliothèque de la Pléiade erhalten. Georges Pompidou veröffentlichte eine Anthologie der französischen Lyrik und interessierte sich für Malerei; das nach ihm benannte Zentrum in Paris war bei seiner Eröffnung 1977 richtungweisend und ist es noch heute. Valéry Giscard d'Estaings kulturelle Bilanz ist demgegenüber bescheidener; immerhin jedoch hat er das Projekt des Institut du monde arabe lanciert, mit Michel Guy einen der besten Kulturminister ernannt, die Frankreich je hatte - und Ende letzten Jahres den Sitz von Léopold Sédar Senghor in der Académie française übernommen. François Mitterrand endlich umgab sich mit einem Hof von Dichtern und Denkern; die im Lauf seiner beiden Amtszeiten realisierten grands travaux - der «Grand Louvre», die Nationalbibliothek, die Cité de la musique, das Musée d'Orsay . . . - dürften seinen Nachruhm als republikanischer protecteur des arts gesichert haben.

Und Jacques Chirac? Der sich gern hemdsärmelig gebende Präsident stand noch nie im Ruch, ein feinsinniger Ästhet zu sein. Wohl nur wenigen ist seine Liebe zu China und zu Japan bekannt - und zwar nicht nur zu dem Traditions- und Kultursport Sumo, sondern auch zur Kunst dieser beiden Kulturkreise. Ein staatliches Museum für asiatische Kunst existierte freilich bereits: das zwischen 1996 und 2001 summa cum laude renovierte Musée Guimet in Paris (NZZ vom 15. 1. 01). Doch zeigt dieses vornehmlich «Hoch- und Hofkunst», während Hunderttausende von Gebrauchsgegenständen - nicht nur aus Asien, sondern auch aus anderen Weltteilen - in den Reserven des Musée de l'homme und des Musée national des arts d'Afrique et d'Océanie lagerten. Diese beiden Pariser Museen harrten bei Chiracs Amtsantritt 1995 schon seit Jahren einer grundlegenden Neukonzeption; 1996 empfahl eine vom Präsidenten einberufene Kommission die Zusammenführung der beiden Sammlungen in einer neuen Institution. Im Juli 1998 wurde ein rechteckiger Baugrund direkt beim Eiffelturm ausgewählt, im Dezember das «Etablissement public du musée du quai Branly» gegründet. Damit war der Entstehungsprozess von «Chiracs Museum» lanciert.

Das Gros der vereinigten Sammlung stammt aus der Kolonialzeit und weist die entsprechenden geographischen Schwerpunkte auf: Nord- und Westafrika, Madagaskar, Naher Osten, Indochina und Polynesien. Lange Zeit als Kuriosa betrachtet und in ethnographischen Museen aufbewahrt, wurden die Objekte um 1905 von den Fauvisten, Kubisten und Expressionisten als «Art nègre» recht eigentlich neu entdeckt. «Der Louvre sollte gewisse exotische Meisterwerke aufnehmen, deren Anblick nicht minder ergreifend ist als der der schönsten Exemplare der westlichen Bildhauerkunst», schrieb Apollinaire 1909 - André Malraux und Claude Lévi-Strauss schlugen später in dieselbe Kerbe. 1990 forderte eine von dreihundert Kulturschaffenden unterzeichnete Petition die Gründung einer Louvre-Abteilung für die Kunst Afrikas, Ozeaniens, der beiden Amerika sowie des indischen Subkontinents. Der Initiator dieser Petition, der 2001 verstorbene Kunstsammler Jacques Kerchache, hatte Chiracs Ohr gewonnen, als dieser noch Bürgermeister von Paris war. Kerchache ist der geistige Vater des Musée du quai Branly - und auch des vor vier Jahren eröffneten Pavillon des Sessions im Louvre, wo 120 Meisterwerke der Stammeskunst zu bewundern sind (NZZ vom 17. 4. 00).
Auf dem Fluss der Zeit

Den internationalen Wettbewerb für den Entwurf des neuen Museums hat, wie bereits gemeldet, Jean Nouvel gewonnen. Sein Projekt dürfte, zumindest auf dem Papier, das Herz jedes Architekturliebhabers höher schlagen lassen. Wenn sich die Qualität eines Museums nicht nur an der Güte der Exponate misst, sondern auch und vor allem an der Übereinstimmung - oder aber an der produktiven Reibung - zwischen Form und Inhalt sowie am Reichtum des Dialogs (im weitesten Sinn) mit den Besuchern, könnte das Musée du quai Branly zum konzeptionell überzeugendsten Museum in Paris werden. Laut Nouvel ist «diese Architektur zuvörderst eine Hommage an Zivilisationen, die sich hauptsächlich entlang Flüssen, in Wäldern und in den Bergen entwickelt haben». Vor dem Autolärm und den Abgasen von dem an der Seine entlangführenden Quai Branly schützt eine 120 Meter lange und 12 Meter hohe Glaswand; auf diese sind die Blätter der Eichen und Ahornbäume serigraphiert, welche die hügelige Prärielandschaft hinter der «Palisade» säumen.

Der Weg führt den Besucher unter der auf Pfählen gebauten langgestreckten «Grande Galerie» hindurch zu einem Tal, das in die Eingangshalle mündet. Auf dieser Seite des von Gilles Clément gestalteten Parks wachsen Kirsch- und Magnolienbäume und bilden zwei grosse Becken mit Wasserpflanzen eine Art natürliche Grenze zur Rue de l'Université, die parallel zum Quai Branly im Süden das Gelände abschliesst. - In der Eingangshalle erblickt der Besucher als Erstes einen eiförmigen, verglasten Silo mit einem Umfang von 51 Metern. Dieser durchquert das Gebäude von unten bis oben und beherbergt auf acht Stockwerken 9500 Musikinstrumente. Eine Treppe führt hinab zum Foyer, zu den Atelier- und Unterrichtsräumen, zum Projektionssaal und zum Auditorium. Dieses ist dank einem ausgeklügelten Vorhangsystem modulierbar; die verglaste Fassade lässt sich auf ein Freilufttheater öffnen. Während die beiden «Module» für Wechselausstellungen auf dem Niveau der Eingangshalle liegen, ist das eigentliche Herz des Museums über eine sinusförmige, 3 Meter breite und 160 Meter lange Rampe zu erreichen - Nouvel spricht von einer «Reise den Fluss hinauf». Die auf Pfählen stehende «Grande Galerie» weist mit 170 Metern Länge, 9 Metern Höhe und 30 bis 35 Metern Breite gewaltige Dimensionen auf. Der 4500 Quadratmeter grosse Raum ist nicht unterteilt, wird wegen der Dichte der Museographie aber kaum mit einem Blick zu erfassen sein: Beabsichtigt ist ein (ur)waldähnlicher Eindruck.

Vier geographische Sektionen grenzen aneinander: Afrika, Amerika, Asien und Ozeanien. Die Nordfassade zur Seine hin weist 26 schachtelförmige Auswüchse von verschiedener Grösse auf: Die meisten dieser Räume sind einzelnen Ländern gewidmet, von Äthiopien bis Tibet. Laut Isabelle Guillauic, der Bauleiterin von den Ateliers Jean Nouvel, soll die wolkenähnliche Decke der «Grande Galerie» im Wechsellicht «wie der Bauch einer Sardine schillern», während sich am Boden künstliche Schatten abzeichnen. Statt Vitrinen im eigentlichen Sinn wird es drei Meter hohe und fünf Meter lange Glasplatten geben, die scheinbar frei im Raum stehen und mitunter im Dunkel verschwinden. Täuschung und Entmaterialisierung, zwei Kernbegriffe von Nouvels Ästhetik, dienen hier der Erzeugung einer traumähnlichen, gleichsam schwebenden Stimmung. Die oftmals unregelmässigen, zum Teil fast biomorphen Formen sind neu im Werk des Architekten. Park, Gebäude und Exponate sollen zu einer Art «Promenade artistique et architecturale» verschmelzen - Leitthema ist die (Entdeckungs-) Reise, der «Parcours initiatique».

Neben den grossen, internationalen Wechselausstellungen im Erdgeschoss und der Präsentation von eigenen Objekten sowie von langfristigen Leihgaben in der «Grande Galerie» sind auch thematische Ausstellungen vorgesehen und sogenannte Expositions dossiers, die einzelne Aspekte der Sammlung vertiefen. Für diese stehen zwei 800 beziehungsweise 670 Quadratmeter grosse Mezzanine zur Verfügung, die amöbenförmig die «Grande Galerie» überragen. Die dortigen Ausstellungen sollen nicht nur von Konservatoren konzipiert werden, sondern auch von auf Zeit ans Haus gebundenen Forschern. Die Institution versteht sich nämlich dezidiert als ein Ort des Dialogs zwischen den Welten des Museums und der Universität - ein Ort, wo nicht nur konserviert, sondern auch geforscht und gelehrt wird.


Islamische Kunst unter dem Glasdach

Rund zwanzig Forscher sollen für zwei bis zwölf Jahre vor Ort an individuellen Projekten arbeiten, die von der Sammlung ausgehen, dank der Vergabe von Börsen aber auch Feldforschung in den Ursprungsländern umfassen können. Parallel dazu werden sie im Haus unterrichten: Das Museum bietet in Zusammenarbeit mit Universitäten und mit der Ecole du Louvre Seminare vom Grundstudium bis zur Habilitation an. So soll am Quai Branly ein richtiger Campus entstehen.

Das zweite vom Staatspräsidenten initiierte Museumsprojekt ist zugleich bescheidener und ambitiöser. Bescheidener in seinen räumlichen und finanziellen Dimensionen. Ambitiöser, weil die Schaffung einer eigenen Abteilung für islamische Kunst im Louvre einen massiven Eingriff in das hochkomplexe (und -empfindliche) Innenleben des «grössten Museums der Welt» darstellt. Die - ebenfalls von Jacques Chirac angeordnete - Eröffnung des oben erwähnten kleinen Pavillon des Sessions im Südflügel des Louvre, einer Art Antenne des Musée du quai Branly, hatte vor vier Jahren zu erheblicher Nervosität unter den Konservatoren geführt. Das mit rund 3000 Quadratmetern mehr als doppelt so grosse neue Département des arts d'Islam könnte auf einen gnädigeren Empfang stossen. Zum einen findet sich islamische Kunst (im Gegensatz zur Stammeskunst) seit je in der Sammlung des Museums und wird dort auch in einer eigenen Raumfolge gezeigt. Zum andern soll mit dem geplanten Umbau eines grossen Innenhofs dem beengten Palast kein bestehender Raum weggenommen, sondern im Gegenteil neuer hinzugefügt werden.

Wie bereits die Cours Marly und Puget dürfte die Cour Visconti mit einem Glasdach überbaut, im Gegensatz zu diesen aber auch mit einer internen Konstruktion versehen werden. Konkrete Gestalt wird das Projekt allerdings erst nächstes Jahr mit der Bestimmung eines Architekten annehmen. Fest steht hingegen bereits, wie der Leiter der Islam-Abteilung, Francis Richard, im Gespräch ausführt, «dass im Louvre die Quasi- Gesamtheit der 3000 Objekte umfassenden Sammlung der Union centrale des arts décoratifs (Ucad) deponiert werden wird». Die beiden Kollektionen ergänzen sich: Schwerpunkte des Louvre sind Werke des «klassischen» Islam zwischen dem 8. und 14. Jahrhundert: Metallarbeiten, Keramik und architektonische Dekorelemente; weniger gut vertreten sind Textilarbeiten - die einen Gutteil der Bestände der Ucad bilden. Richard verspricht sich von der partiellen Zusammenführung der beiden Kollektionen die Entstehung «eines der schönsten Ensembles islamischer Kunst in der Welt - wenn nicht das schönste». Ziel ist erklärtermassen, mit den entsprechenden Abteilungen des New Yorker Metropolitan Museum und des Londoner Victoria and Albert Museum rivalisieren zu können.

Der Louvre setzt dabei auch auf eine innovative Museographie. Der Zeitschrift «Connaissance des arts» hat der Direktor des Museums, Henri Loyrette, unlängst erklärt: «Die islamische Kunst wird von einer subtilen Kontinuität bestimmt, die uns eine segmentierte Präsentation wie anderswo im Museum verbietet, etwa eine Trennung zwischen den verschiedenen Glas- und Keramiktechniken. Wir müssen dem Besucher auf sinnlich nachfühlbare Weise die Idee vermitteln, dass das kleinste Objekt wie auch das monumentalste Bauwerk auf ein und denselben geistigen Raum verweisen. Das erheischt eine ganzheitliche Herangehensweise, die Philosophie wie Wissenschaftsgeschichte, Heilkunde, Kalligraphie, Textilhandwerk und noch viele andere Dimensionen mit einbezieht. Dieser Blick für das Gesamte, der justament dem Geist entspringt, von dem die islamischen Kulturen durchdrungen sind, sollte eine vorbildhafte Neuerung sein im Vergleich zur traditionellen Aufteilung der Départements des Louvre.» Dem Museum nicht bloss eine weitere Abteilung hinzugefügt, sondern zu einer eigentlichen Neukonzeption seiner Museographie geführt zu haben, wäre nicht das geringste Verdienst von Chiracs Initiative.


Zahlen und Fakten

zit. Das Musée du quai d'Orsay hängt vom Kultur- sowie vom Erziehungs- und Forschungsministerium ab. Es vereint die früheren Sammlungen des Ethnologielaboratoriums des Musée de l'Homme und des endgültig geschlossenen Musée national des arts d'Afrique et d'Océanie: insgesamt rund 300 000 Inventarnummern (wobei ein Kostüm aus sieben bis zehn Objekten besteht und die Sammlung rund 40 000 Tonscherben zählt). Direkt beim Eiffelturm auf einem Gelände von etwa 220 mal 120 Metern gelegen, wird das Museum von einem 18 Hektaren grossen Park umgeben sein. Jean Nouvels Bau umfasst eine Mediathek mit 25 000 frei zugänglichen Werken, ein modulierbares Auditorium, Atelier- und Büroräume, ein Dachrestaurant mit Panoramablick sowie Räumlichkeiten für Dauer- und Wechselausstellungen (knapp 7000 beziehungsweise 2000 Quadratmeter). Mehr als 4000 Objekte sollen in der «Grande Galerie» dauerhaft gezeigt werden. Der Rest der - mit der Software «The Museum System» von Grund auf neu inventarisierten - Sammlung ist für Forscher und für Angehörige der Ursprungsländer in vier «Studiensälen» zugänglich. Die Gesamtkosten sind auf 216,5 Millionen Euro veranschlagt - das Fünfjahresbudget für Ankäufe von fast 23 Millionen Euro nicht mitgerechnet. Die Eröffnung soll 2006 erfolgen.

Das Département des arts de l'Islam, die achte Abteilung des Louvre, wurde am 1. August 2003 geschaffen. Bis dahin war die 10 000 Objekte umfassende Sammlung ein Teil des Département des antiquités orientales. Derzeit sind im Richelieu-Flügel etwa 1300 Exponate zu sehen: Die dreizehn 1993 eröffneten Säle sind unterirdisch gelegen und räumlich beengt. Mit der für den Jahreswechsel 2008/2009 geplanten Eröffnung der im Denon-Flügel gelegenen Cour Visconti soll sich die Ausstellungsfläche (heute: 1108 Quadratmeter) verdreifachen, desgleichen die Zahl der Exponate. Der Architekt wird Mitte 2005 nach einem internationalen Wettbewerb bestimmt; die Baukosten sind auf 50 Millionen Euro veranschlagt.

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