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Kunst und Infrastruktur
Neue Zürcher Zeitung

Die Gegend um King's Cross in London wandelt ihr Gesicht

Mit dem Umbau des Londoner Bahnhofs St. Pancras für die Eurostar-Züge soll die Gegend um King's Cross zum grössten Verkehrsknoten Europas werden. Pläne für ein neues Stadtquartier auf den Bahnbrachen liegen vor, und von der Transformation zeugt nicht zuletzt die Kunstszene, welche die Gegend zu entdecken beginnt.

3. Dezember 2004 - Hubertus Adam
Im Jahre 1850 erreichte die Eisenbahn London. Die städtebaulichen Umstrukturierungen, welche die Einführung des neuen Verkehrssystems begleiteten, führten zu Veränderungen, wie sie die britische Kapitale seit dem grossen Brand von 1666 nicht mehr erlebt hatte - auch wenn den expandierenden Eisenbahngesellschaften untersagt wurde, mit ihren Trassierungen in die Kernstadt vorzudringen. Stiegen die ersten Reisenden der Great Northern Railway noch zwischen Güterschuppen aus, so entstand mit Lewis Cubitts King's Cross Station 1852 ein wegweisender Bau, eine Inkunabel der Bahnhofarchitektur: Die beiden Perronhallen zeichnen sich im Triumphbogen-Motiv der stadtseitigen Ziegelfassade ab, Repräsentation und Funktionalität fanden hier auf überzeugende Weise zusammen. Weitere grosse Kopfbahnhöfe und die weltweit erste Untergrundbahn folgten. 100 Jahre später setzte mit dem Boom des Individualverkehrs der Niedergang ein, der in der Vernachlässigung des Eisenbahnwesens in der Thatcher-Ära kulminierte. So endet das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz noch immer, sobald nach dem Kanaltunnel bei Ashford britischer Boden erreicht ist. Die restlichen hundert Kilometer bedeuten eine gemächliche Reise durch die Grafschaften Kent und Surrey, bevor man in Nicholas Grimshaws futuristischer Waterloo Station eintrifft.
Ein neues Stadtviertel entsteht

Derzeit entsteht aufgrund eines Parlamentsbeschlusses von 1996 ein eigenes Eurostar-Trassee zwischen Ashford und London. 5,5 Milliarden Pfund sind für das ambitiöse Projekt «Channel Tunnel Rail Link» vorgesehen, das bis 2007 fertig gestellt sein soll. Endstation der Tunnelzüge ist in Zukunft indes nicht mehr die Waterloo Station, sondern St. Pancras, wo Norman Foster nördlich der denkmalgeschützten Halle eine riesige Stahl-Glas-Konstruktion baut. Verbunden mit diesem Bauvorhaben ist eine grundsätzliche Reorganisation der Schienenwege im Bereich von King's Cross und St. Pancras; nicht zuletzt der bisher abseitig gelegene Haltepunkt der London in Nord-Süd-Richtung querenden Thameslink- Züge soll in den Bereich der Zwillingsbahnhöfe verlegt werden. Die Verantwortlichen sprechen vom grössten Verkehrsknoten Europas.

Die Baumassnahmen beschränken sich aber keineswegs auf die Verkehrsinfrastruktur. Der Entwicklung harrt ein riesiges Areal, das sich über mehr als einen Kilometer nördlich der beiden Bahnhöfe bis nach Camden Town erstreckt und von der Linie der North London Railway begrenzt wird. Vor wenigen Jahren noch konnte man hier die Industriegeschichte des 19. Jahrhunderts studieren: Güterhallen, Bahnviadukte sowie das gusseiserne Stabwerk einer Reihe von Gasometern aus den Jahren 1860-67 bestimmten das Bild. Dazu trat der 1820 eröffnete Regent's Canal, die vor der Einführung der Eisenbahn für den Güterverkehr wichtigste Arterie der Stadt. Über ein System von künstlichen Wasserwegen verband der unter Oberaufsicht von John Nash angelegte Kanal die Londoner Docklands an der Themse mit dem mittelenglischen Industriegebiet.

Ein Grossteil der historischen Bausubstanz auf dem Areal ist inzwischen niedergelegt. Auf knapp 30 Hektaren wird hier bis zum Jahr 2015 ein neues Stadtgebiet entstehen, dessen Entwicklung die Grundeigentümer - die London & Continental Railways (LCR) und das Logistikunternehmen Exel - den Developern Argent St. George übertragen haben. In Abstimmung mit der Londoner Stadtverwaltung und dem lokalen Camden Council wurde ein Rahmenwerk entwickelt, das die Realisierung eines lebendigen Stadtquartiers ermöglichen soll. Der Masterplan ist ein Gemeinschaftswerk von Demetri Porphyrios, der die neuklassischen Ansichten von Prince Charles teilt, und dem der modernen Tradition zuzurechnenden Architekturbüro Allies and Morrison. Während für den keilförmigen Bereich zwischen den Bahnhöfen und dem Regent's Canal vor allem Büronutzungen vorgesehen sind, konzentrieren sich die Wohnbauten eher auf den Norden des Areals. Auf High-Tech-Hochhäuser, wie sie derzeit in der City of London aus dem Boden spriessen, verzichten die Planer, und zumindest einige Industriebauten bleiben als historische Reminiszenzen erhalten. Das metallene Stabwerk einiger Gasometer beispielsweise wartet zerlegt auf den Wiederaufbau. Was sich indes noch atmosphärisch vermittelt, wenn die Gerüste mit neuen Nutzungen gefüllt werden, ist offen. Gestapelte Penthouses, Büroräume oder ein glasumhüllter Jurassic Park sind einige der von vier Architekturbüros entwickelten Szenarien.

Die Kunstszene kommt

Auch jenseits der Grenzen des Entwicklungsgebiets «King's Cross Central» wird die Gegend ihr Gesicht grundsätzlich verändern. Döner- Buden und Billigläden verschwinden. Die bisher auf das edle Mayfair und das hippe Hoxton konzentrierte Kunstszene beginnt das Areal um King's Cross für sich zu entdecken. So eröffnete Larry Gagosian, der mitunter als «Donald Trump der Kunstszene» apostrophierte amerikanische Galerist, nach seiner Niederlassung nahe der Regent's Street vor wenigen Monaten eine grosse Dépendance in der Britannia Street, fast in Sichtweite des Bahnhofs King's Cross. Die Londoner Architekten Adam Caruso und Peter St. John, die neben der vielbeachteten Art Gallery in Walsall (NZZ 6. 11. 00) zeitgleich auch Gagosians erste Londoner Niederlassung realisierten, bauten eine frühere Garage zu der mit 1400 Quadratmetern grössten kommerziellen Galerie der Hauptstadt um. Hinter der diskreten Strassenfassade mit ihren grossen opaken Fensterscheiben und dem Foyer befinden sich drei Säle, deren grösster mit 28 Metern Länge und 13 Metern Breite die Dimensionen herkömmlicher Museumsräume hinter sich lässt. Klare Proportionen, eine überaus zurückhaltende Materialisierung sowie die geschickte Einbeziehung des Tageslichts bestimmen das Interieur, das selbst die Präsentation von Stahlplastiken Richard Serras erlaubt.

Ganz am anderen Ende des Entwicklungsgebiets um King's Cross, an der Strasse Vale Royal, hat David Chipperfield unlängst ein Ateliergebäude für den Plastiker Antony Gormley errichtet. Eine Mauer mit grossem Tor grenzt einen Vorplatz von der Strasse ab, dahinter befindet sich das helle Atelier mit seinem Zackendach aus insgesamt sieben Giebeln. Man kann die Baustruktur als Ensemble von sieben Häusern verstehen, aber auch als Industriehalle - es handelt sich gleichsam um ein hybrides Gebäude, das fabrikartige Produktionsstätte, privates Atelier und Galerie zugleich ist. Unter den drei mittleren Giebeln befindet sich das doppelgeschossige Hauptatelier, die Seitenflügel sind zweigeschossig organisiert und bergen kleinere Räume - in der oberen Ebene unter anderem die Studios von Gormley und der Malerin Vicken Parsons.

Der York Way führt von Gormleys Atelier zurück zu den Bahnhöfen. Nach der Brücke über den Regent's Canal zweigt die kleine Crinan Street ab. Von aussen kaum sichtbar, erstreckt sich zwischen beiden Strassen das opulente Domizil einer jungen Modedesignerin. David Adjaye, der Shootingstar der Londoner Architekturszene (NZZ 14. 1. 04), hat die offene Raumstruktur entworfen, die - von unterschiedlich bepflanzten Lichthöfen gegliedert - auch als Show- Room dienen kann. Die Privaträume wurden über einem höhlenartig inszenierten Swimmingpool in die Nachbarbebauung eingeschachtelt, während die Arbeitsräume zum York Way hin orientiert sind. Vom Fenster im Obergeschoss aus eröffnet sich ein weiter Blick über das Entwicklungsgebiet nördlich von King's Cross. Welche Impulse von hier in Zukunft ausgehen, wird sich erst beantworten lassen, wenn die ersten Architekturwettbewerbe entschieden sind.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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