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Architektonische Schätze der Gründerzeit
Neue Zürcher Zeitung

Zum Abschluss des grossen Inventarwerks INSA

Vor dreissig Jahren wurde das Inventar der neueren Schweizer Architektur (INSA) zur Erfassung der gründerzeitlichen Baukunst unseres Landes initiiert. Das in zehn Sammelbänden publizierte Forschungsprojekt konnte nun soeben mit der Veröffentlichung des wissenschaftlich wichtigen Registerbandes abgeschlossen werden.

8. Dezember 2004 - Roman Hollenstein
Das stadthistorisch und architektonisch wohl reichste Erbe der Schweiz stammt aus den Jahren zwischen 1850 und 1920. Damals wandelten sich unsere Zentren von malerischen Kleinstädten, die gerade erst ihre barocken Mauern gesprengt hatten, zu modernen Gemeinwesen. Ganze Quartiere wurden nach städteplanerischen Erkenntnissen realisiert, aber auch neue Bauaufgaben in Angriff genommen: von Bahnhöfen, Verwaltungsbauten, Schulhäusern, Universitätsgebäuden und Fabriken über Mietshäuser, Spitäler, Kurhotels, Kasernen und Gefängnisse bis hin zu Theatern und Museen. Der technisch-innovative und ästhetische Wert dieser Bauwerke - von denen sich in vielen Schweizer Städten hervorragende Beispiele befinden - wurde von der kämpferisch in Richtung einer lichten, von jedem Pomp befreiten Zukunft stürmenden Avantgarde des 20. Jahrhunderts nicht erkannt und nach dem Zweiten Weltkrieg völlig negiert. So war es möglich (um ein ganz besonders tristes Beispiel zu nennen), dass in St. Gallen, der Stadt, die dank ihrer Stickerei- und Textilindustrie um 1900 zu einer Metropole des Luxus und der Mode aufgestiegen war, in den siebziger Jahren gleich zwei Hauptwerke des bedeutenden Spätklassizisten Johann Christoph Kunkler zerstört wurden: das Stadttheater und der monumentale Versicherungspalast Helvetia.

Schutz durch Publizieren

Da damals eine denkmalschützerische Protektion dieser ungeliebten und in ihrem Wert völlig verkannten Bauten noch kaum bestand und auch nicht jedes Haus der Epoche zwischen 1850 und 1920 unter Schutz gestellt werden konnte, war es dringlich, sie wissenschaftlich zu erfassen und einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Dadurch konnte jene Entwicklung eingeleitet werden, die dazu führte, dass heute die Bauten des Historismus, des Jugendstils und der klassischen Moderne als wertvolle Zeugen unserer politischen, sozialen und kulturellen Entwicklung, aber auch als baukünstlerische Objekte geschätzt, gepflegt und mit viel Sensibilität den gegenwärtigen Bedürfnissen angepasst werden.

Das übergrosse architekturhistorische Erbe dieser Zeitspanne macht jedoch schon das Erfassen der bedeutenderen Bauten höchst aufwendig. Deshalb scheut man sich in vielen Ländern bis jetzt vor einer Bestandesaufnahme. Ein wichtiges Pionierprojekt war die Dokumentierung der an Meisterwerken reichen Wiener Ringstrassenarchitektur. Doch so flächendeckend wie in der Schweiz wurden die städtebaulichen und baukünstlerischen Leistungen der gründerzeitlichen Boomjahre wohl noch nirgends publiziert. Zu verdanken ist dies einer 1973 von Georg Germann initiierten Herkulesarbeit mit dem lapidaren Titel «Inventar der neueren Schweizer Architektur» (INSA).

Germann und seinen Mitstreitern, darunter vor allem Hanspeter Rebsamen, schwebte anfangs ein die klassischen Kunstdenkmäler-Bände zeitlich fortschreibendes Kurzinventar aller zwischen 1850 und 1920 in der Schweiz entstandenen Bauten vor. Doch mussten sie schon zu Beginn ihrer Feldforschung feststellen, dass eine Beschränkung nötig war, um das Vorhaben, das ins Uferlose abzudriften drohte, nicht zu gefährden. Schliesslich entschied man sich, nur die Kantonshauptorte sowie jene Gemeinden, die um 1920 mindestens 10 000 Einwohner zählten, nach ganz spezifischen Kriterien zu bearbeiten. Insgesamt 40 Städte wurden in den zehn zwischen 1982 und 2003 von der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte (GSK) herausgegebenen und vom Schweizerischen Nationalfonds mitfinanzierten Bänden nach einem einheitlichen Schema erfasst: So folgt bei jeder Stadt auf einen Überblick mit Bevölkerungsstatistik, Zeittafel und Planmaterial eine spannend zu lesende Siedlungsgeschichte sowie - als architekturhistorisches Kernstück - das topographische, nach Strassen geordnete Kurzinventar ausgewählter Bauten und schliesslich ein knapper Anhang (ohne Personenregister). Diese reich bebilderten Bücher, die ursprünglich als Basis für die weitere wissenschaftliche Forschung, aber auch für die praktische Denkmalpflege gedacht waren, wurden schnell von einer breiteren Leserschaft als kultur- und stadtgeschichtlich fundierte Führer entdeckt.

Da aus Platzgründen vor allem beim Kurzinventar der grossen Städte Einschränkungen nötig waren, vermisst man hier immer wieder Bauten, die aus heutiger Sicht berücksichtigt werden müssten. Als leicht störend empfinden kann man zudem die Übergewichtung kleinerer Gemeinden. So darf der dörfliche Kantonshauptort Stans fast gleich viel Platz beanspruchen wie Genf, die Schweizer Stadt mit dem wohl grössten bauhistorischen Erbe. Hier spielten föderalistische und freundeidgenössische Überlegungen eine Rolle. Wichtig war beim Problemfall Genf aber auch die um 1980 schwierige Archivlage in der Rhonestadt. Beim Durchsehen der Inventarteile entsteht daher der Eindruck, dass es vor allem kleinere Objekte waren, die das Schweizer Baugeschehen dominierten, und weniger Monumente wie etwa die Kaserne, die ETH, das Landesmuseum oder die Universität in Zürich. Da zudem die baukünstlerische Entwicklung in Kantonshauptorten wie Altdorf, Appenzell, Delsberg und Sarnen oder in der Alpenstadt Davos eher einer von Industrialisierung oder Tourismus geprägten ländlichen Schweiz entspricht, spiegelt das INSA schon jetzt gewissermassen einen gesamtschweizerischen Durchschnitt.

Hilfreicher Registerband

Dennoch wäre zu wünschen, dass in einer weiteren Buchreihe auch die architektonischen Schätze der Landgebiete und Agglomerationen erfasst werden könnten. Zudem harrt die zwischen 1920 und 1970 entstandene Architektur noch der Bearbeitung. In beiden Fällen könnte der zwar bewährte, aber wegen der fehlenden Namensregister nicht immer benutzerfreundliche Aufbau der bisherigen INSA-Bände verbessert werden. Als deren Nachrüstung versteht sich nun der soeben erschienene Registerband, der dem ebenso ambitiösen wie gelungenen publizistischen Unternehmen nach 30 Jahren die wissenschaftliche Krone aufsetzt. Auch wenn die an ein handliches Telefonbuch erinnernde Publikation spröde wirkt, macht sie doch mit ihren rund 25 000 Familien- und Firmennamen das INSA «zum umfassenden Nachschlagewerk zur Bau- und Kulturgeschichte der Schweiz in der frühen Moderne». Wäre der Band zeitiger erschienen, so hätten beispielsweise die Juristen in Lugano nur unter Americo Marazzi nachschlagen müssen, um anhand der Stichwörter (1879-1963; architetto, capotecnico comunale di Lugano) und der folgenden 50 Verweise die Bedeutung dieses heute unterschätzten Architekten für die Entwicklung des Tessins zu erkennen und den vor wenigen Tagen bewilligten Abbruch eines der letzten Zeugen seiner Montarina- Gartenstadt in Lugano zu überdenken.

Der Registerband wertet aber nicht nur die INSA-Reihe aus der Sicht von Denkmalpflege und Forschung entschieden auf. Er dürfte auch bei vielen interessierten Laien den Wunsch wecken, das INSA-Nachschlagewerk integral zu besitzen. Das ist aber kaum mehr möglich, weil die Bände zwei und zehn längst vergriffen sind. Da diese wohl kaum mehr nachgedruckt werden, sollte dringend die Reihe der aus den INSA-Bänden herausgelösten Stadtmonographien - von denen bisher Bern, Luzern, Olten, Solothurn, St. Gallen, Winterthur, Zürich und Zug erschienen sind - verlängert werden. Zumal mit ihnen den Schweizer Städten ein erstklassiges, auch touristisch nutzbares Mittel der historischen Selbstdarstellung zur Verfügung steht. Im Fall von Genf wäre es zudem möglich, in einer Ergänzung den heutigen Forschungsstand zur dortigen Architektur beizufügen.

[ INSA-Register. Hrsg. Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte (GSK). Orell-Füssli-Verlag, Zürich 2004. 319 S., Fr. 78.-. Die ebenfalls bei Orell Füssli erschienenen Inventarbände (je 464 bis 544 Seiten) kosten zwischen 108 und 128 Franken, die acht bisher erschienenen Stadtmonographien (je 112 bis 296 Seiten) kosten zwischen 43 und 49 Franken. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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