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Baukunst als Leitmedium
Neue Zürcher Zeitung

Eine Buchreihe zum jüngsten Architekturgeschehen

16. Dezember 2004 - Roman Hollenstein
In den neunziger Jahren zum kulturellen Leitmedium erklärt, geniesst die Architektur zurzeit mehr Aufmerksamkeit als je zuvor. Und dabei sind wir heute weit entfernt von jenen lautstarken Debatten, die in den zwanziger Jahren die Moderne und um 1980 die Postmoderne in Mode brachten. Nun sind es die Bauten selbst, die bald dank neuen Höhenrekorden, bald dank verführerischen Hüllen oder organisch-skulpturalen Formen im Rampenlicht stehen. Noch immer unerreicht in seiner durchschlagenden Zeichenhaftigkeit, geistert Frank Gehrys baskischer Ableger des Guggenheim-Museums und mit ihm der Traum vom Bilbao-Effekt durch die Köpfe der Architekten und Stadtväter. So wurden kürzlich sogar in Zürich Entwürfe für architektonische Identifikationsfiguren am Bürkliplatz und auf dem Papierwerdareal von berühmten Architekten wie Zaha Hadid oder Dominique Perrault erbeten - mit dem Erfolg, dass keiner der Vorschläge zu überzeugen vermochte. Dass architektonische Spitzenwerke nicht in Auftrag gegeben werden können, sondern als Resultat glücklicher Zufälle nur ganz selten entstehen, demonstrierte ungewollt auch die im November zu Ende gegangene neunte Architekturbiennale von Venedig. Die oft fragwürdigen skulpturalen Phantasien, welche sie unter dem Titel «Metamorph» im offiziellen Teil präsentierte, liessen jedenfalls schnell ein Gefühl der Übersättigung aufkommen.

Spiegel einer Epoche

Den theoretischen Überbau zum venezianischen Grossanlass reichen nun zwei Ausstellungen nach: «ArchiSkulptur» in der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel und «Arti e Architettura» im Palazzo Ducale in Genua. Wer weder diese Events noch die baukünstlerische Mammutveranstaltung in der Lagune besuchen konnte und auch nicht jedem neu eröffneten Gebäude eines sogenannten Stararchitekten nachreisen will, dem bietet eine üppig illustrierte Buchreihe mit dem eingängigen Titel «Architecture Now!» die Möglichkeit zu einer spannenden Reise durch die Welt der Architektur, welche aber leider auf Abstecher in exotischere Gefilde wie Südamerika oder gar Afrika weitgehend verzichtet. Die in den Jahren 2001 und 2002 sowie vor wenigen Tagen erschienenen drei Bände präsentieren dem bequem vom Fauteuil aus die Weltarchitektur abklappernden Leser auf über 1700 Seiten und mittels ähnlich vieler Farbabbildungen einen Überblick über die baukünstlerische Spitzenproduktion der letzten sechs Jahre. Den 235 in knapp gefassten Texten vorgestellten Bauten und Projekten von 128 Architekten traut der Herausgeber Philip Jodidio zu, dass sie stärker noch als die Kunst «den wahren Geist der Epoche ausdrücken».

Jodidios Auswahl, die von einer lesenswerten Einführung begleitet wird, kann und will keine letzte Objektivität vermitteln. Gleichwohl gibt sie ein buntes Spektrum von der Ökoarchitektur bis zur virtuellen Baukunst, von der asketischen Box bis zum blubbernden Blob. Dabei lässt sich von Band zu Band eine Steigerung der Qualität der ausgewählten Werke feststellen. Neben Meisterwerken wie dem Kursaal von Rafael Moneo in San Sebastian, dem Palmach Museum von Zvi Hecker in Tel Aviv oder der Tate Modern von Herzog & de Meuron in London und schönen Miniaturen wie dem Liner-Museum von Gigon Guyer in Appenzell oder dem Restaurant Georges von Jakob & MacFarlane im Centre Pompidou wurden anfangs immer wieder auch nichtssagende Bauten berücksichtigt: etwa das Shanghai World Finance Center von Kohn Pedersen Fox, der Roissy-Flughafen von Paul Andreu oder die TGV-Bahnhöfe von Jean-Marie Duthilleul. Hingegen fanden die vieldiskutierten Expo-Bauten von Zumthor oder MVRDV in Hannover keine Aufnahme. Dafür kamen mit Greg Lynns biomorphen Wucherungen und Marcos Novaks Aliens computergenerierte Visionen zu einem grossen Auftritt.

Der neuste Band überrascht nun durch ein fast gleichmässig hohes Niveau. Segeln Arbeiten wie das niederländische Son-O-House von NOX, der Serpentine Gallery Pavillon von Toyo Ito in London, der Yokohama International Port Terminal von Foreign Office Architects oder die Grazer Kunsthalle von Cook & Fournier im «archiskulpturalen» Fahrwasser von Venedig, Riehen und Genua, so zeigen etwa das nahe der Chinesischen Mauer errichtete Bambushaus von Kengo Kuma und die minimalistischen Würfel eines Minihauses von Masaki Endoh in Tokio oder des Glashauses von Werner Sobek in Stuttgart die ungebrochene Kraft des Einfachen.

Selbstverliebte Prestigebauten

Erstaunlich aber ist, dass selbst in dieser Hitparade der Innovationen die Bauten der Expo 02 zu glänzen vermögen: In Murten stiess der Minimalismus mit Jean Nouvels Cube zu neuen Grenzen vor, in Biel begann mit den Türmen von Coop Himmelb(l)au der Dekonstruktivismus zu tanzen, und in Yverdon eroberten Diller & Scofidio mit ihrer Blur-Wolke ungeahnte Dimensionen des Immateriellen. Abstrakter und zugleich naturnäher kann sich «organische» Architektur wohl nicht geben. Ganz nebenbei offenbart der stählerne Kern der Wolke, dass auch dieses Bauwerk letztlich auf der mathematischen Logik des Computers basiert. So verführerisch diese drei Arbeiten auch sind, können sie - wie die meisten in der Reihe «Architecture Now!» zelebrierten Prestigebauten - doch ihre formale Selbstverliebtheit nicht verbergen. Während der Augenschmaus im Zentrum steht, spielen kontextuelle, ethische oder soziale Themen eine ebenso geringe Rolle wie der (von einigen exzentrischen Villen abgesehen) meist wenig glamouröse Wohnungsbau oder die städtebaulichen Probleme der Dritten Welt.

[ Philip Jodidio: Architecture Now! Architektur heute / L'architecture d'aujourd'hui. Taschen-Verlag, Köln 2001, 2002 und 2004. Drei Bände. Pro Band 570 S., Fr. 50.-. ]

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