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Vignola - weder Höfling noch Revolutionär
Neue Zürcher Zeitung

Eine Schau über den italienischen Architekten in Vignola

Jacopo Barozzi da Vignola (1507-73) gilt als einer der wichtigsten Architekten des italienischen Cinquecento; die römische Kirche Il Gesù und eine Schrift über die Säulenordnungen waren von grossem Einfluss auf die Nachwelt. Gleichwohl hat Vignola in den vergangenen Jahrzehnten wissenschaftlich nur wenig Aufmerksamkeit erfahren. Eine Ausstellung mit umfangreichem Katalog kompensiert nun dieses Defizit.

29. Mai 2002 - Hubertus Adam
Die Baukunst des italienischen Cinquecento ist mit einer Reihe bedeutender Namen verbunden: Bramante und Raffael, Giulio Romano und Antonio da Sangallo, Peruzzi und Serlio, Sansovino, Michelangelo und Palladio. Inzwischen gilt das Werk der meisten herausragenden Architekten dieser Zeit als erforscht, und doch zeigen sich immer wieder Lücken. Eine solche wird nun im südöstlich von Modena am Rand des Apennins gelegenen Vignola geschlossen: mit einer Ausstellung über Jacopo Barozzi, der besser bekannt ist unter dem Namen seines Heimatorts Vignola. Schauplatz ist der mitten im Zentrum gelegene, frisch restaurierte Palazzo Contrari Boncompagni, dessen Zuschreibung an Vignola seit jüngerem erwogen wird. Das vergleichsweise geringe Interesse, das Vignola seitens der Forschung zuteil wurde, erstaunt, gelang es dem Architekten doch, sich mit zwei Werken die Aufmerksamkeit der Nachwelt zu sichern: mit der Kirche Il Gesù in Rom und der 1562 in erster Auflage erschienenen «Regola delli cinque ordini d'architettura».


Ambivalenz der Wirkungsgeschichte

Il Gesù, wiewohl mit einer anderen Fassade versehen und später im Inneren hochbarock überformt, revolutionierte die Sakralarchitektur der Neuzeit wie kein zweiter Bau. In den rechteckigen Grundriss mit halbrunder Apsis ist ein breites Kreuz eingeschrieben, an die Stelle von Seitenschiffen treten miteinander verbundene Kapellen. Gewiss, Vignola konnte sich auf Vorbilder (vor allem Albertis Sant'Andrea in Mantua) stützen, und doch gelang ihm mit der Mutterkirche des Jesuitenordens eine vorbildliche Verbindung der mittelalterlichen Langhauskonzeption mit dem Zentralbau der Renaissance. Die Ausbreitung des Ordens im Zuge der Gegenreformation trug massgeblich zur Popularisierung des Gesù-Schemas bei - ohne Vignolas Vorbild wäre die kirchliche Baukunst des Barock nicht denkbar.

Noch nachhaltiger indes war die Wirkung des Architekturtraktats. Die auf Vitruv basierende Diskussion der fünf Säulenordnungen stiess in einer Zeit der Wiederentdeckung der Antike auf breites Interesse und beschäftigte verschiedene Theoretiker. Aber erst Vignola gelang es, mit seiner 32 Seiten umfassenden, zunächst als Mappenwerk publizierten «Regola» die Säulenordnungen praktisch handhabbar zu machen. Das Traktat wartet nicht mit einer avancierten Theorie auf, sondern beschränkt sich auf eine primär visuell argumentierende Abhandlung. Anhand des Säulendurchmessers legte Vignola einen «modulo» fest, mit dessen Hilfe sich sämtliche Masse berechnen lassen: Mit einem für jede Ordnung spezifischen Multiplikator lassen sich die adäquate Gesamthöhe von Sockel, Säulen und Gebälk berechnen oder in umgekehrter Weise aus einer beabsichtigten Gesamthöhe sämtliche Detailmasse ableiten. Diese benutzerfreundliche Methode vereinfachte den Entwurf eines Gebäudes in klassischen Formen - kein Wunder, dass Vignolas «Regola» in der akademischen Ausbildung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Verwendung fand. Damit besass Vignolas Traktat eine Bedeutung, die heute nur noch mit der in Architekturbüros omnipräsenten «Bauentwurfslehre» von Ernst Neufert zu vergleichen ist.

Aus einer Handreichung, die den architektonischen Entwurf vereinfachen sollte, wurde aus der Perspektive der Nachgeborenen indes eine Doktrin. So entstand das Bild eines wenig inspirierten Formalisten, dem das ingeniöse, von funkensprühender Subjektivität geprägte Talent eines Michelangelo abging und der - anders als sein Zeitgenosse Palladio - auch nicht mit einem konsistenten Werk aufwartet. Viele der Bauten, mit denen Vignolas Name verbunden ist, sind Modifikationen oder Erweiterungen vorhandener Entwürfe - dies gilt für die Villa Giulia in Rom ebenso wie für Alessandro Farneses Palazzo in Caprarola: In das wehrhafte Pentagon der Mauerschale integrierte Vignola gekonnt einen runden Innenhof, um den sich die Räume fügen, und vereinte somit Fortifikation und Villa.


Materialreiche Dokumentation

Die sehenswerte Ausstellung ist Resultat eines von namhaften Wissenschaftern geleiteten Forschungsprojekts, das in einem profunden, sämtliche Aspekte seines Œuvres würdigenden Katalogbuch Niederschlag gefunden hat. Die chronologische Ausstellung ist materialreich, sucht aber nicht durch eine überbordende Fülle von Exponaten zu überwältigen. Innerhalb von elf Stationen lässt sich der Schaffensweg von Vignola nachvollziehen, wobei die Organisatoren mitunter Einzelwerke zur Diskussion stellen, um dann wieder im raffenden Verfahren weitere Bauten und Vergleichsbeispiele Revue passieren zu lassen. Wo immer möglich, wird Originalmaterial präsentiert - besonders beeindruckend sind die aquarellierten Federzeichnungen für die im Auftrag des zukünftigen Papstes Marcellus II. bei Montepulciano geplante, aber nicht realisierte Villa Cervini.

Wie viele seiner Zeitgenossen begann auch Vignola als bildender Künstler: Nach einem Studium der Malerei in Bologna arbeitete er im Vatikan als Dekorationsmaler, bevor er zusammen mit Francesco Primaticcio in Fontainebleau tätig wurde: 1541-43 entstanden im Auftrag von François I eine Reihe von Güssen nach den Antiken im Belvedere des Vatikans. Zurück in Italien, wandte sich Vignola der Architektur zu und war sieben Jahre lang an dem nach St. Peter wichtigsten Bauprojekt des Kirchenstaats tätig: San Petronio in Bologna. Der gotisierende und klassizierende Elemente vereinende Entwurf für die Fassade blieb allerdings ebenfalls unausgeführt. Für den nächsten Dienstherrn, Papst Julius III., realisierte er neben der Villa Giulia die römische Kirche Sant'Andrea an der Via Flaminia. Der kleine Bau, der durch das Pantheon ebenso inspiriert ist wie durch römische Mausoleen, gilt als der erste Ovalbau der Sakralarchitektur. Neben der päpstlichen Kurie wurde die Familie Farnese in der Folge zum wichtigsten Auftraggeber: Er beaufsichtigte Ranuccio Farneses Palastprojekt in Rom, entwarf Caprarola und Il Gesù für Alessandro Farnese und für Ottavio Farnese die gewaltige Stadtresidenz in Piacenza.


Nach dem Manierismus

In den früheren Jahren noch von einem zum Exzentrischen tendierenden Manierismus beeinflusst, verlagerte sich Vignola später auf eine sachliche, beinahe spröde Entwurfshaltung. Bombastische Repräsentation findet man in seinen Arbeiten ebenso wenig wie elaborierte ikonographische Programme. So ist Architektur vornehmlich gebaute Struktur, ein Ganzes, das sich aus ins Gleichgewicht gebrachten Einzelteilen zusammensetzt. Gewiss spiegelt sich darin eine neue politische Situation, die durch das Ende des manieristischen Experiments und die Effizienz neuer, konservativ-gegenreformatorischer Machteliten bestimmt ist. Christof Thoenes meldet in einem lesenswerten Katalogbeitrag Skepsis an Manfredo Tafuri an, der Vignolas Entwicklung als einen Regress zum Reaktionären interpretiert hatte. Bezug nehmend auf den von Jan Philipp Reemtsma entwickelten Begriff des «balancierten Individuums» versteht Thoenes den Rappel à l'ordre nach dem Laisser-faire des Manierismus und seiner Genialitätsästhetik als Durchgangsstation Richtung Moderne: Mässigung, Selbstdisziplin und Fähigkeit zur Kooperation gelten ihm als Arbeitsethos eines Mannes, der weder Revolutionär noch Höfling gewesen sei. Habe Goethe an den Bauten Palladios die Mischung aus Wahrheit und Lüge bewundert, so mache die Unfähigkeit zur Lüge die Grösse und Grenze des Genius von Vignola aus.


[Bis 7. Juli im Palazzo Contrari Boncompagni in Vignola. Katalog: Jacopo Barozzi da Vignola. La vita e le opere. Hrsg. Richard J. Tuttle, Bruno Adorni, Christoph Luitpold Frommel, Christof Thoenes. Electa, Milano 2002. 436 S., Euro 70.-.]

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