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Heimat ist überall
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„Wer sich in Kolorit und Milieu einer Stadt einfühlt, Zufälle und Patina thematisiert, der mag Denkmalpflege und Museen nicht.“ Miroslav Sik, Architekt und Theoretiker. Ein Porträt.

5. März 2005 - Walter Zschokke
Eine der großen Schwächen der Neomoderne - die auf die „Postmoderne“ folgte - ist die Neigung zahlreicher Exponenten, immer wieder das Kind mit dem Bade auszuschütten, indem sie - ahistorisch, wie sie sind - das Vorhandene verdrängen oder ablehnen und unter verbalradikalen Trompetenstößen vom unerledigten Heute in eine von subjektiven Hoffnungen und Wünschen verengte „Zukunft“ flüchten, von der sie nicht wirklich eine Ahnung haben.

Das gilt sowohl für nicht wenige Architekten als auch für ihre eifrigen Propagandisten in den Medien. Offensichtlich unfähig, eigene, von der Sache ausgehende Gedanken zu entwickeln, folgen sie diesem oder jenem medial aufgebauschten formalistischen Trend und verlieren dabei die Bodenhaftung, weil sie meinen, sich nicht mehr mit dem konkreten städtebaulichen Kontext auseinander setzen zu müssen. Und sie schwätzen in oberflächlicher Weise von amerikanischen oder asiatischen Stadtvorbildern, die angeblich die Zukunft für die europäische Stadt darstellen. De facto auf das eigene Objekt fixiert, verbreiten sie publizistischen Nebel, um in dessen Schutz ihre Fremdanleihen einzubringen. Dabei verkennen sie sowohl die strukturelle Vielfalt als auch die oft Jahrtausende zurückreichenden historischen Wurzeln der europäischen Städte und ihre je spezifischen Entwicklungen, die jeder Stadt ihren individuellen Charakter eingeschrieben haben. Wird dies beim Arbeiten an der Stadt nicht berücksichtigt, sondern verdrängt, werden die daraus resultierenden Bauten jahrzehntelang Fremdkörper bleiben, bis sie wieder verschwunden sind, gestalterisch überformt oder von der Vitalität der Stadt schlicht assimiliert worden sind.

Das Instrumentarium zur Analyse des individuellen Charakters europäischer Städte wurde von italienischen Städtebautheoretikern in Rom, von Saverio Muratori und anderen, begründet und in der Folge effektvoller von Aldo Rossi verbreitet. Ihr typologisch-morphologischer Ansatz der Analyse erlaubte ein kontextuelles Projektieren, vernachlässigte jedoch die Berücksichtigung von Nebenwirkungen in der Feinstruktur, so dass formalistische Implantate nicht ausblieben.

An diesem Punkt setzen Theorie und Praxis des tschechisch-schweizerischen Architekten und Architekturlehrers Miroslav Sik an. Während sich die meisten Städtebauhistoriker auf die geschichtlichen Zentren beschränkten, richtete er seinen Blick frühzeitig auch auf vorstädtische Gebiete, in denen seit dem 19. Jahrhundert Wohnanlagen, Gewerbe- und kleinere Industriebetriebe, Dienstleistungsinfrastrukturen sowie Verkehrsbauten in dichter Mischung ein spezifisches Ambiente entwickelten. Sik, der sich selbst als Traditionalist bezeichnet, analysiert die Orte für seine Bauwerke bis in die Feinheiten lokaler Stimmungen, die von Farben, Nutzungsambiente, lokalen Stilmischungen bis hin zu einzelnen Bäumen reichen. Seine Interventionen sind zurückhaltend und streben die Stärkung vorhandener Ensemblewirkung an. Obwohl wortgewaltig und profiliert in seiner oft an Loos gemahnenden Diktion - „Das Stadtgesicht deines Gebäudes ist nicht deine Privatsache“ -, sind seine Entwürfe und Bauwerke verbindlich in der Haltung. Siks kurzer Text „Traditionell poetisch“ von 1995 (zu finden in seinem Buch „Altneue Gdanken. Texte und Gespräche 1987 - 2001“, Quart Verlag, Luzern) gibt sein Verhältnis zur europäischen Stadt konzentriert wieder, weshalb er hier zur Gänze zitiert werden soll:

"Die Stadt in ihrer Alltäglichkeit zu bewahren und ihr zugleich durch minimale Eingriffe Poetisches zu entlocken ist wohl das einzige Prinzip des Traditionalismus. Es tönt einfach: integriere und verfremde, Genius Loci und abgeleitete Imagination, Stadt als Vollendetes und ihr lokaler und empirischer Umbau. Nichts Großmaßstäbliches, Radikales und Avantgardistisches, keine Nostalgie und Importe. Es tönt einfach, ist jedoch das Allerschwierigste.

Die Stadt als Überlieferung zu bewahren verknotet uns mit älteren Generationen, ihren Träumen und Gewohnheiten, mit Wunder- und Widerlichkeit. Diesem Gegebenen verweigert der metropolitane Neomodernist Respekt und Verantwortung und zelebriert, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die Stunde zero. Seinem Neuanfang folgt der nächste, bis sich alles in Kontraste und Fragmente verwandelt. Wohl wachsen sie eines Tages wieder zum Ensemble zusammen, doch führt dorthin ein langer und schmerzhafter Weg. Die Alten sagten ,ordo amoris' und meinten damit die sanfte Einfühlung.

Die Stadt als Multiversum zu bewahren erfordert ein pluralistisches Gemüt. Heimat ist überall, im historischen Stadtkern, auf den Paradeboulevards des 19. Jahrhunderts, in der technischen und Schrebergarten-Peripherie, in der Satelliten-Utopie der 60er-Jahre. Romantisch und aufklärerisch strahlte die Heimat Stolz, Schönheit und Harmonie aus. Unsere Heimat ist grau und steif, zugleich bunt und motivierend, Tristesse und Action. Komposition gehört ihr an wie Chaos und Monotonie. Traditionalismus ist kein Stil, sondern ein Weg der Analogien.

Wer die Stadt traditionalistisch, sprich interpretierend, bewahrt, sich in Kolorit und Milieu einfühlt, Zufälle und Patina thematisiert, der mag Denkmalpflege und Museen nicht. Gewohnheiten und Traditionen werden bewahrt, indem man sie lebt, bewusst um sie kämpft, sie mit Nonkonformen schmilzt und ihnen eine gute Portion Spannung beimischt."

Als gebautes Beispiel sei das Musikerwohnheim genannt, eine Wohnanlage an der Zürcher Bienenstraße. Vis à vis steht eine Halle der Verkehrsbetriebe, und wenige Schritte westlich befindet sich das Letzgrund-Stadion, insgesamt eine spannende urbane Mischung. Drei kurze Trakte sind im Norden über zwei Stiegenhäuser zusammengekoppelt, von denen die akustisch gedämmten Übungsräume direkt zugänglich sind. Davor liegen südorientiert zu den beiden Höfen je zwei Loggien, über die der Zugang zu den eigentlichen Wohnungen erfolgt. Damit ist eine komplexe Benutzung möglich, weil die Übungsräume unabhängig sind - man muss als Musiker gar nicht im Haus selbst wohnen. Andererseits bietet die Loggia einen in seiner Art fast ländlich anmutenden Pufferbereich vor der eigentlichen Wohnung.

Miroslav Sik, der 1968 mit seiner Familie in die Schweiz emigrieren musste, lehrte seit den 80er-Jahren an den Technischen Hochschulen von Zürich, Lausanne und Prag. Seit 1998 ist er ordentlicher Professor an der ETH in Zürich.

Die 1931 in Hamburg gegründete Alfred-Toepfer-Stiftung, die sich für europäische Einigung und die Integration mittel- und osteuropäischer Länder und die Schwerpunkte Kultur und Wissenschaft, Naturschutz und Jugend einsetzt, vergibt seit 1963 die Heinrich-Tessenow-Medaille in Gold. Ausgezeichnet wurden bisher unter anderem die Architekten Sverre Fehn, Juan Navarro Baldeweg, David Chipperfield, Heinz Tesar, Edouardo Souto de Moura und Peter Märkli. Heuer ist es Miroslav Sik, der für seine Verdienste für eine „qualitätsvolle Weiterentwicklung der historisch gewachsenen europäischen Stadt“ gewürdigt wird.

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