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Die Alpträume des Sigmund F.
Der Standard

Schon Adolf Loos forderte die neue, selbständige Frau. Zeitgenosse Sigmund Freud fürchtete sich noch vor ihr. Jetzt ist sie endgültig da - und die Architektur wird endlich gleichgeschlechtlich.

2. April 2005 - Ute Woltron
Sigmund Freuds heute heiter zu lesende Thesen über die Beschaffenheit des weiblichen Geschlechts sowie dessen vermeintliche Neigung zu hysterischen Zuständen schlugen sich seinerzeit tatsächlich in Architektur nieder. Die Architektin Sabine Pollak beschreibt das in ihrem jüngst erschienenen Buch Leere Räume. Weiblichkeit und Wohnen in der Moderne (Sonderzahl) sehr anschaulich.

Architektur war und bleibt Spiegel der Gesellschaft. Deshalb ist heute die Frage, inwieweit die zeitgenössische Architektur Rücksicht auf die Bedürfnisse und Ansprüche zeitgenössischer Frauen nimmt, viel interessanter als Freuds entrückte Thesen - die Schreibtischladen und eigentlich überhaupt so gut wie alles zu Genitalien oder den Neid auf dieselben umdeuteten, und in deren Folge die Damen sicherheitshalber in die brokatgepolsterten Privatgummizellen der Jahrhundertwende befördert wurden.

Die Ansprüche der Frauen sind erheblich gestiegen, darf man erfreut feststellen, denn das Wegsperren hat sich auf Dauer als nicht machbar erwiesen, das Boudoir ging den Weg alles Weltlichen, das Herrenzimmer ebenso. Spezielle Architektur für Frauen könnte sich heute vielmehr bereits den Vorwurf der Reaktion einhandeln, viel sinniger ist es, die so genannte Gleichberechtigung auch in Wohngrundrissen Form annehmen zu lassen.

Wie reagiert also die Architektur auf die sich rasant verändernden Lebensumstände, in denen wir heute alle - Männer wie Frauen, deren freche Emanzipation natürlich der Grund für all dies ist - zu Hause sind? Tatsächlich wird kreuz und quer allein erzogen, zugleich gearbeitet, und die Kinder durchwandeln die Patchworkfamilien: Doch wie schauen die Wohnungen für diese neuartigen Familienformen aus? Wie müssen die Heimstätten der immer zahlreicher werdenden Alleinerzieherinnen beschaffen sein, die nicht nur nebenbei, sondern aus Gründen der Überlebenssicherung Vollzeit arbeiten - wenn geht, von zu Hause? Und: Werden die überhaupt schon gebaut?

Die Antwort auf all diese Fragen ist befriedigend, wenn auch noch nicht beglückend, denn vereinzelt tauchen bereits neue Wohnmodelle auf, obwohl die meisten heute auf den Markt geworfenen Wohnungen nach wie vor dem traditionellen Vater-Mutter-Zwei-Kinder-Schema entsprechen, das nach gängigen Moralbegriffen zwar das anstrebenswerte, jedoch schon lange nicht mehr das übliche ist.

Der zeitgenössische Wohnbau, sagt die Architektin Elsa Prochazka, müsse vielmehr „zielgruppenorientiert sein und die neuen Lebens- und Arbeitsbedürfnisse unter die Lupe nehmen. Wir leben schließlich heute alle mehrere Leben“. Prochazka plant derzeit denn auch in der Nähe der Alten Donau für das ÖSW ein Quartier mit 150 Wohneinheiten, das unterschiedlichste Grundrisse für diverse Lebenssituationen bereitstellen wird.

Junge, moderne, noch kinderlose Nomadinnen und Nomaden bekommen frei disponierbare Lofts, Familien mit Windelnachwuchs Atriumhäuser mit Freiflächen, Leute, deren Leibesfrüchte bereits flügge sind, eher kleinere Wohneinheiten, dafür ein breites Angebot halböffentlicher Einrichtungen, die das Leben wie in einem kleinen Hotel gestalten werden.

Ein bahnbrechender Wohnbau (frei finanziert) entstand bereits 1993 in der Wiener Frauenfelderstraße, stammt von den Architekten Henke Schreieck und zeigt immer noch vor, wie gut flexible Grundrisse mit allerlei Schiebeelementen funktionieren können. Marta Schreieck: „Die von vornherein eingerichteten Grundrisse, die jede Möblierung bereits festlegen, machen mich wahnsinnig. Wir versuchen vielmehr, nutzungsneutrale Räume anzubieten und Wohnungen so zu planen, dass sich jeder Raum gegebenenfalls auch für einen Arbeitsraum eignet. Ich glaube zutiefst nicht daran, dass Männer und Frauen dabei unterschiedliche Bedürfnisse haben.“

Einen weiteren Meilenstein setzte Bus-Architektur mit ihrer wohnbaugeförderten Wiener Compact-City (2001, SEG), die ebenfalls Arbeiten und Wohnen gekonnt miteinander vereint. Bus-Chefin Laura Spinadel: „Wir versuchen, Aufgaben lebensstilbezogen zu lösen, Grundrisse müssen atmen, sich verändern und unterschiedlich bespielt werden können. Interessanterweise werden Sonderwünsche vor allem von Frauen eingebracht, die sich zum Beispiel teilbare Kinderzimmer wünschen, damit sie arbeiten können, wenn die Kinder spielen, oder schließbare Wohnküchen, damit man das Wohnzimmer auch genießen kann, ohne das schmutzige Geschirr vor Augen zu haben.“ Mittlerweile schaffen Architektinnen und Architekten diesen Qualitätssprung also auch im geförderten Wohnbau - sofern ihre Auftraggeber Mut und Vision an den Tag zu legen bereit sind. Winfried Kallinger (Kallco) setzte beispielsweise mit den Architekten Delugan Meissl ein Wohnhaus auf die Parzelle E des Wienerbergs (2004), in dem sich auf der gegenübergelegenen Gangseite der Wohnungen wahlweise billig mietbare Räume befinden, die sich dank ISDN- und Telefonanschluss auch für Home-Offices eignen.

Kallinger: „Der Ansatz Live and Work war von vornherein unser Thema, vor allem für neue Selbständige und für Berufsformen, die es früher nicht gegeben hat. Das ist nicht unbedingt frauenspezifisch, obwohl sich diese Lösung für Frauen, die nicht unbedingt neben ihren tobenden Kindern arbeiten wollen, natürlich anbietet.“ Die Nachfrage nach diesen wohnungsnahen „Arbeitsboxen“ war laut Kallinger vorzüglich: „Wir werden in diesem Sinne weitermachen.“

Letztes Beispiel: In einem 2004 für die GPA fertig gestellten geförderten Wohnbau in der Alxingergasse, ebenfalls Wien, setzten die Architekten Bettina Götz und Richard Manahl alias Artec nicht nur technisch neue Standards, sondern statteten das Haus ebenfalls mit kleinen, zumietbaren Büros aus. Bettina Götz: „Wohnen und Arbeiten befinden sich in einem fließenden Übergang, genau so wichtig ist es aber, die Ansprüche der Patchworkfamilien umzusetzen und auf die Räume für die Kinder Rücksicht zu nehmen.“

Der Weg in diese emanzipatorische Architektur war lang, er ist auch noch nicht zu Ende gegangen, doch Leute wie etwa Adolf Loos haben einige der Entwicklungen, wenn man so will, vorausgesehen. Loos hat im Gegensatz zum alten Ignoranten Freud eigenständige Frauen gefordert, die für ihren Lebensunterhalt selbst aufkommen würden und dem Mann gleichgestellt wären.

Für Eva Kail von der „Leitstelle für alltags-und frauengerechtes Planen und Bauen“, Baudirektion Wien, sind diese Forderungen Arbeitsgrundlage, sie hat seit 1997 alle geförderten Wohnbauprojekte zur Begutachtung auf ihren Schreibtisch bekommen. Auch sie beobachtet einen „qualitativen und philosophischen Wandel“, der ihr allerdings nicht schnell genug vonstatten geht: Kail wünscht sich vor allem eine Evaluierung der unterschiedlichen Wohnsituationen.

Genau: Die wissenschaftliche Aufbereitung dieses Themas fehlt noch im Lande Sigmund Freuds. Weg mit der Verdrängung, denn lebensnahe Lösungen müssen nicht geträumt, sie sollten zügig gebaut werden.

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