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Fata Morgana im Flussdelta
Neue Zürcher Zeitung

Bilder von Louis I. Kahns Parlamentsgebäude in Dhaka

27. April 2005 - Hubertus Adam
Im Jahre 1962 erhielt der amerikanische Architekt Louis I. Kahn (1901-1974) zwei Aufträge, die ihn die letzten zwölf Jahre seines Lebens beschäftigen sollten und als Summe seines architektonischen Denkens und Schaffens gelten können. In Ahmedabad, der Kapitale des indischen Bundesstaats Gujarat, errichtete er das Institute of Management; in Dhaka, der Hauptstadt des seinerzeitigen Ostpakistan, plante er das gesamte Regierungsviertel. Beide Projekte wurden erst nach Kahns Tod fertiggestellt - das Parlamentsviertel von Dhaka sogar erst 1983. Ausschlaggebend dafür waren einmal nicht die notorischen Schwierigkeiten Kahns, sich für eine definitive Form zu entscheiden, sondern innenpolitische Schwierigkeiten: Im Bürgerkrieg der Jahre 1971 bis 1973 wurde Ostpakistan von dem rund 2000 Kilometer entfernten Westpakistan unabhängig und bildet seitdem den Staat Bangladesh.

Keine sterile Architekturfotografie

Mit der in einem künstlichen See sich erhebenden Zitadelle des Parlamentsgebäudes, den diagonal dazu ausgerichteten Unterkünften für Minister und Angestellte sowie dem etwas entfernten Krankenhaus konnte Kahn nur einen Teil seiner Gesamtplanung realisieren, die ursprünglich auch einen Kulturbereich als Pendant zu den staatlichen Bauten umfassen sollte. Dennoch glückte ihm - der sich endlich mit dem lang ersehnten Auftrag konfrontiert sah, eine ganze Stadt zu entwerfen - eines der grandiosesten architektonischen Ensembles des 20. Jahrhunderts. In einer Zeit, die auf Stahl-Glas-Architektur eingeschworen schien, verknüpfte Kahn Tradition und Moderne und wagte es, einen Begriff neu zu beleben, der in der damaligen Architekturdebatte nahezu tabuisiert war: Monumentalität.

Das Parlament von Dhaka zählt zu den Inkunabeln der Architektur des 20. Jahrhunderts, und doch kennen nur wenige den Gebäudekomplex aus eigener Anschauung. Um so mehr ist dem Zürcher Verleger Dino Simonett zu danken, dass er eine opulente Bildpublikation über Kahns Chef-d'œuvre in seinen ebenso kleinen wie exquisiten Verlag aufgenommen hat. Wie auch mit seinen anderen Büchern ist Simonett nicht auf der naheliegenden Route vorgegangen, sondern nähert sich dem Thema gleichsam über einen Umweg. Denn anders, als man es erwarten würde, werden der Stahlbetonkoloss des Parlaments und die benachbarten Ziegelbauten nicht von einem Architekturfotografen in Szene gesetzt, sondern von Raymond Meier, dem seit 1986 in New York ansässigen Schweizer Starfotografen, der unter anderem für «Vogue» arbeitet und üblicherweise Fashion-Models ablichtet.

Bibliophile Publikation

In seiner 118 Motive umfassenden Bildstrecke, Resultat eines zweiwöchigen Aufenthalts in Dhaka im Jahr 2002, schildert Meier zunächst das tägliche Leben in der im Sumpfland des Ganges- Brahmaputra-Deltas sich ausdehnenden Hauptstadt. Erst langsam, wie als Fata Morgana, wird hinter den verschiedentlich ins Bild gerückten Bewohnern der Stadt der von Treppen, Rampen und Plätzen umgebene Parlamentskomplex sichtbar. Indem er zunächst vor allem Menschen zeigt, verweigert sich Raymond Meier der sterilen Optik des objektfixierten Architekturfotografen; gleichwohl gleiten seine Bilder auch niemals in pittoresken Exotismus ab.

Allmählich tastet sich Meier mit seiner Kamera an das Zentrum heran. Zunächst zeigt er die Zone der vorgelagerten Substruktionen, dann die grandiosen Hallen und Treppenbereiche, die als Hauptzugang fungierende Moschee und schliesslich das Oktogon des Parlamentssaals. Es schliessen sich Fotos der Amtszimmer und Unterkunftsgebäude an. Am Ende werden einige der eindrucksvollsten Motive wie in einem Schnelldurchlauf zusammengefasst. Gerade wenn es um die expressiven Komponenten des Gebäudes geht, bedient sich Meier ungewohnter Winkel und suggestiver Schrägsichten, um dann aber wieder Totalen in ruhigen Panoramaeinstellungen festzuhalten. Das gegenüber dem klassischen A4-Format leicht gestauchte und in die Breite gezogene Buchformat unterstützt Meiers unterschiedliche Annäherungen, die bald einseitig im Hoch- oder Querformat auf weissem Grund oder randabfallend, bald auf Doppelseiten und sogar auf Ausklappseiten wiedergegeben sind.

Zu dem Buch mit Meiers Fotos tritt ein zweiter Band mit historischen Bildern der Entstehungszeit. Simonett wählte für die hier gezeigten Baustellen- und Atelierfotos ein Papier mit weniger glatter Oberfläche, so dass die Motive fast schemenhaft und flackernd wirken. Eingeleitet wird dieser Band durch einen knappen, lesenswerten Essay von Nathaniel Kahn, dem unehelichen Sohn des Architekten, der unlängst durch den sensiblen Dokumentarfilm «My architect» bekannt wurde - eine filmische Annäherung an seinen Vater. Rostrote Leineneinbände mit dem schematischen Grundriss des Parlamentsgebäudes als Prägemotiv zeugen vom hohen Standard der Ausstattung. Das in einem Schuber gelieferte Werk ist auf 2000 von Raymond Meier nummerierte und signierte Exemplare limitiert. Auch wenn man ein Blatt mit Bildlegenden und einen Grundriss vermisst: Simonett und Meier haben ein Werk vorgelegt, das einen ungewohnten Zugang zu Kahn ermöglicht und dabei der Seele des Bibliophilen schmeichelt.

[ Raymond Meier: Louis Kahn Dhaka. Edition Simonett, Zürich 2005. 2 Bände, 220 S. und 80 S., Fr. 225.-. ]

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