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Hallen über Schienen
Neue Zürcher Zeitung

Eine Ausstellung über neue Bahnhofarchitektur in Chicago

19. Juni 2002 - Hubertus Adam
Während das Getty Museum in Los Angeles gerade mit der Ausstellung «Railroad Vision» in Photographien die Eisenbahnära der Vereinigten Staaten beinahe elegisch Revue passieren liess, beschwört «Modern Trains and Splendid Stations» im Art Institute Chicago das Schienenzeitalter des beginnenden 21. Jahrhunderts. Etwas Bizarres haftet dem Titel an - in einem Land, das durch eine hemmungslos liberalisierte Verkehrspolitik und die Vergötzung der individuellen Mobilität das einzige für mittlere Distanzen praktikable und überdies hinsichtlich seiner Energiebilanz unübertroffene Verkehrsmittel systematisch ins Abseits befördert hat. Doch selbst hier setzt angesichts der notorisch verstopften Innenstädte und der nach dem 11. September vorverlegten Check-in-Zeiten auf den Flughäfen ein Umdenken ein. Hochgeschwindigkeitsstrecken werden in Kalifornien sowie an der Ostküste angelegt, Kristallisationspunkt eines neuen Bewusstseins aber ist das Projekt für die neue Penn Station in Manhattan. Mit der Entscheidung, das von McKim, Mead & White entworfene «Farlay Post Office» in einen Bahnhof umzubauen und durch eine hochragende Stahl-Glas-Konstruktion zu ergänzen, wird der mit 500 000 Passagieren täglich grösste Verkehrsknoten im Herzen Manhattans im Jahr 2005 wieder zur Sichtbarkeit gelangen - also mehr als 40 Jahre nachdem der barbarische Abriss des historischen Stationsgebäudes die Versenkung der Gleise und Abfertigungsbereiche in das unwirtliche und stickige Basement eines Shopping-Centers zur Folge gehabt hatte.

Intermodale Vernetzung
David M. Childs und Marilyn Jordan Taylor, die im Büro Skidmore, Owings & Merrill für die neue Penn Station verantwortlich sind, haben nun auch aus schienenähnlichen Bändern aus Chromstahl und orangefarbenen Platten das Ausstellungsdesign für die Schau in Chicago entworfen. Zeitgenössische europäische Bahnhofprojekte bilden den Schwerpunkt der Präsentation. Wurden die Hochgeschwindigkeitszüge auch zuerst in Japan aufgegleist, so bietet ein Netz schneller Bahnverbindungen doch in Europa zweifellos mehr Entwicklungspotenziale als in dem ostasiatischen Archipel. Nach Frankreich und Deutschland hat der Ausbau des Streckennetzes nun auch die Niederlande erreicht, welche zwischen Eurostar, TGV und ICE ins Abseits zu geraten drohten. Das Projekt für den neuen Bahnhof von Arnhem, einen intermodalen Verkehrsknoten, dessen dynamisch sich verschränkende Verkehrsebenen von Ben van Berkels Büro UN Studio aus Fluktuation und Personenfrequenz errechnet wurden, zählt zu den Höhepunkten der Schau. Hier artikuliert sich ein neues Verständnis, das weder Jan van Belkums eher grobschlächtige, 1997 eröffnete Station von Amersfoort noch Nicholas Grimshaws Hightech-Projekt für Amsterdam-Bijlmermeer aufweisen.

Dass der Bahnhof mit seinen an die Tradition des 19. Jahrhunderts anknüpfenden Hallenstrukturen ein bevorzugtes Betätigungsfeld von Architekten englischer Provenienz ist, belegen die Stationen der neuen Flughafenlinie in Hongkong (Terry Farrell, Norman Foster) oder der Transbay Terminal in San Francisco. Deutsche Hightech- Adepten sind mit dem Lehrter-Bahnhof in Berlin (von Gerkan, Marg und Partner), dem Flughafenbahnhof Frankfurt (Bothe, Richter, Teherani) und dem geplanten unterirdischen Hauptbahnhof Stuttgart (Ingenhoven, Overdiek und Partner) vertreten. Zum Teil monumentalere und massigere Formen weisen die japanischen Bahnhöfe auf, allen voran Hiroshi Haras neues Empfangsgebäude (1997) in Kyoto, das damit den Gegenpol zu Shigeru Bans leichter Struktur für Tazakawo markiert. Spanien ist mit Rafael Moneo (Atocha-Bahnhof, Madrid) sowie Cruz und Ortiz (Santa Justa, Sevilla), Portugal mit dem Lissabonner Oriente-Bahnhof von Santiago Calatrava, der derzeit auch den Bahnhof von Liège-Guillemins plant. Einziges Beispiel aus der Schweiz ist der Interface Flon von Bernard Tschumi in Lausanne. Ergänzt wird die Präsentation durch Modelle, Entwürfe und Fotos aktuellen Zugdesigns, ob es sich um Shinkansen, TGV oder ICE handelt, ob um neue Triebwagen für das amerikanische Unternehmen Amtrak oder das von dem führenden Münchner Designbüro Neumeister erarbeitete Konzept für den deutschen Transrapid.

Kritikfreies Panorama
Flughafenbahnhöfe und Hochgeschwindigkeitsknoten stellen die wichtigsten Bauaufgaben der Gegenwart dar. Allerdings bleibt es in der Schau beim Panorama der Projekte. Fragen unterbleiben. Auf grundsätzliche Überlegungen, ob und wie sich ein zeitgenössischer Bahnhof von einem Flughafen unterscheiden müsste und warum viele Architekten Airports und Bahnstationen gleichermassen entwerfen, wird in Chicago verzichtet. Möglicherweise sind es ohnehin nicht die spektakulären Bahnhofsbauten, welche zukünftig zur Änderung der Reisegewohnheiten führen. 12,5 Millionen Barrel Öl dienen in den USA täglich für die Massenmobilität. Die prognostizierte Verdreifachung des Verkehrsaufkommens bis zum Jahr 2050 wird der in einer Epoche scheinbar unbegrenzter Progression und endloser Energieressourcen vernachlässigten Bahn neue Attraktivität zuwachsen lassen.


[Bis 28. Juli. Katalog: Modern Trains and Splendid Stations. Architecture, Design, and Rail Travel for the 21st Century. Hrsg. Marta Thorne. Merrell Publishers, London 2002 / The Art Institute of Chicago, Chicago 2002. 160 S., $ 29.95.]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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