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Ein weisser Gaudí
Neue Zürcher Zeitung

Calatravas schillerndes Meisterwerk in Valencia

Der 1951 in Valencia geborene Santiago Calatrava begeistert seit langem sein Publikum mit bildhaft-organischen Bauwerken, die nun in Valencia einen ganzen Kulturbezirk bilden. Erklären lässt sich diese Ingenieurbaukunst nicht zuletzt aus der Denkweise seines Landsmanns Antoni Gaudí, der heute seinen 150. Geburtstag feiern könnte.

25. Juni 2002 - Roman Hollenstein
Drei gigantische Mammutbäume bilden den effektvollen Hintergrund von Santiago Calatravas Haus - einer neobarocken Villa beim Zürichsee. In deren Garten findet man unter anderem eine Skulptur des Künstlerarchitekten, die an das ondulierende Dach von Antoni Gaudís Schule neben der Sagrada Familia erinnert. Doch nicht in diesem suggestiven Park, sondern im Säulenwald der Krypta von Gaudís barcelonesischem Gotteshaus erklärte Calatrava unlängst in einem Film der BBC sein Schaffen. Damit bekannte er sich ebenso zu Gaudí, der heute vor 150 Jahren in Reus bei Tarragona geboren wurde, wie zur architektonischen Transformation natürlicher Vorbilder. Krypta und Garten, Barcelona und Zürich offenbaren aber auch die Quellen von Calatravas Denken und Entwerfen, das zwischen dem überbordenden Formenreichtum der katalanischen Welt und der nüchtern-rationalen Baukunst seiner Wahlheimat schwankt. Die Natur als grosse Lehrmeisterin führte ihn zu einer organischen Sprache und zu ähnlich gewagten konstruktiven Lösungen, wie sie einst Gaudí ganz empirisch am Schnurmodell erforscht hatte. Zugleich steht Calatrava in der Tradition seiner Landsleute Félix Candela, Eduardo Torroja, Josep Antoni Coderch und Enric Miralles, von denen jeder auf seine Weise Gaudís Erbe analysierte und weiterdachte.

Nach dem Besuch von Kunstakademie und Architekturfakultät in Valencia absolvierte der intellektuelle Asket mit Sinn für das Überreizte in Zürich das Studium des Bauingenieurs, um in der Vereinigung von Maillart und Gaudí seine künstlerischen Visionen architektonisch umzusetzen. Schon bei Calatravas ersten Raumgestaltungen handelte es sich um zuvor nie Gesehenes: Erinnerten doch die Miniatur des Taburettli-Theaters in Basel oder die geistreichen Dachkonstruktionen der Kantonsschule Wohlen an Knochengerüste und urweltliche Wesen. Ihnen folgte die Vorhalle des neuen Luzerner Bahnhofs, die erstmals jene Gaudí'sche Dualität von Kathedrale und Höhle beschwor, die sich dann im Bahnhof Zürich Stadelhofen zur unerhörten Symbiose von Ingenieurskunst und Architecture parlante steigerte. Verweist das von Glyzinienkaskaden umspielte Stützsystem der Hohen Promenade noch auf Gaudís phantastische Substruktionen im Park Güell, so sind die federförmigen Perrondächer, die zungenartigen Brücken oder die phallischen «Wandreliefs» ebenso genuine Erfindungen wie die Schlünde, die hinunterführen in die dunklen Betongewölbe der unterirdischen Halle, in der man sich wie im Keller des Palau Güell oder mehr noch wie Jonas im Bauch des Wals fühlt.


Der Ingenieur als Künstlerarchitekt

Was seither folgte, vermochte zwar in seiner Eloquenz zu faszinieren, erreichte aber - abgesehen von den Hochseilakten der Brückenbauten - in Geschlossenheit und Bildkraft das Zürcher Meisterwerk kaum mehr. Zwar gefällt sich das wie ein Roche ausgreifende Dach des Flughafengebäudes von Bilbao noch als artistisch verstiegene Nachgeburt des Saurierrückens von Gaudís Casa Batlló, doch schon der neue Oriente-Bahnhof in Lissabon veranschaulicht Calatravas Schritt vom phantastischen hin zum rationalistischen Gaudí, der seinen Ausdruck findet in weissen Parabolkonstruktionen, wie sie Gaudí früh schon im Kolleg der Theresianerinnen erprobt hatte.

Spätestens seit Calatrava 1991 mit makabrem Witz die New Yorker Kathedrale St. John the Devine als ausgebleichtes Skelett erweitern wollte und damit wohl die verblüffendste Antwort auf Gaudís unvollendeten Tempel in Barcelona gab, stossen seine Bauten auf heftigen Widerspruch. Doch müssen selbst die schärfsten Kritiker zugeben, dass sich in Valencia die weissen Knochengebilde von New York und die klaren Parabolbögen von Lissabon zu einem neuen Höhepunkt verschmelzen: der Ciutat de les Arts i les Ciències, in der sich pralle Reife und süssliche Exzentrik zur Quintessenz von Calatravas Baukunst zusammenfinden. Von den vier Grossbauten, die sich östlich des Stadtzentrums aus dem 1957 trockengelegten Flussbett des Túria erheben, beherrscht das Wissenschaftsmuseum allein schon durch seine schiere Grösse die Anlage. Dieses expressive Zwitterwesen - halb Kristallpalast und halb Sagrada Familia - scheint in einem See zu schwimmen, der mit Trencadís genannten Keramikmosaiken ausgekleidet ist.

Das Museu de les Ciències besteht aus einer biomorphen Struktur, in der sich Gaudís noch gotisch inspirierte Konstruktionsweise zu einem homogenen, wie aus einem Guss geformten weissen Betonskelett verdichtet. Dem Rhythmus dieses Hallenbaus antwortet ein parabelförmig konzipiertes Palmenhaus. Von dessen Esplanade blickt man hinunter auf das surreal angehauchte Auge des sich ebenfalls in einem Pool spiegelnden Planetariums und hinüber zum noch nicht vollendeten Palau de les Arts, dessen an einen Velohelm erinnernde, weit auskragende Aussenform nur dank der Kombination von Beton und Stahl möglich wurde. Hier lässt sich - anders als bei der offenen Palmenhalle - die Baustruktur nicht mehr logisch nachvollziehen, und die ingenieurtechnische Rhetorik droht sich in einer exaltierten Geste zu verlieren.


Valencia und Zürich

Kehrte Calatrava bereits mit der Alameda-Brücke und der weissen Unterwelt der gleichnamigen U-Bahn-Station in seine Heimatstadt zurück, um nun mit der Kunst- und Wissenschaftsstadt seinen bisher grössten Triumph zu feiern, so blieb es hierzulande lange still um ihn. Ausser einer Reihenhaussiedlung in Würenlingen, die durch ihren anthroposophischen Kubismus überrascht, konnte der weltweit tätige Künstlerarchitekt zunächst nur noch in St. Gallen bauen, das dem ETH-Puritanismus weniger ausgesetzt ist: nämlich die elegante Wartehalle am Bohl sowie die von einem kinetischen Dach überwölbte Polizeiwache im Klosterbezirk. Eine zurzeit im Bau befindliche Hofüberdachung des Sitzes der juristischen Fakultät beweist nun aber, dass auch Zürich, wo Calatrava zudem der Auftrag zur Erweiterung des Opernhauses nur knapp entging, wieder zaghaftes Interesse an Calatrava bekundet. Hier beweist er einmal mehr, wie sehr sich in seinem Schaffen Künstler, Designer, Architekt und Ingenieur gegenseitig bedingen. Auch darin ist er Gaudí verwandt. Dennoch will sich Calatrava nicht als Testamentsvollstrecker von dessen Erbe sehen. Zu Recht, denn das formale und strukturelle Weiterdenken von Gaudís Baukunst ist - wie Valencia beweist - neben der technischen Beredsamkeit und der künstlerischen Gratwanderung nur ein, wenn auch ein gewichtiger Aspekt von Calatravas schillerndem Œuvre.

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