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Leuchtturm in der Stadtwüste
Neue Zürcher Zeitung

Ein innovatives Wohnhochhaus von MVRDV in Madrid

Metastasenförmig breitet sich Madrid in alle Himmelsrichtungen aus. Doch architektonischer Qualität begegnet man in den neuen Stadtvierteln nur selten. Ausnahmen bilden Bauten international bekannter Architekten, etwa des Rotterdamer Büros MVRDV, das im Norden der Stadt ein spektakuläres Wohnhochhaus errichtet hat.

1. Juli 2005 - Klaus Englert
Madrid wächst in atemberaubendem Tempo. Ähnlich wie Barcelona sich zwischen Jean Nouvels Torre Agbar und dem neuen Forum-Gebäude von Herzog & de Meuron unaufhaltsam nach Norden in Richtung Meer und Río Besòs ausbreitet, liegen auch in Madrid die wichtigsten Expansionsgebiete am Nordrand der Stadt. Dort sollen insgesamt vier Türme von Pei, Foster, Pelli und Rubio / Alvarez Sala gemäss der grossangelegten Operación Chamartín dereinst die Plaza Castilla rahmen und 1,5 Millionen Quadratmeter Büroflächen bieten. Diesem Expansionsdrang folgt auch der Wohnungsbau. Auf ehemaligem Ackerland, wo noch bis in die achtziger Jahre nur einige Hütten von Wanderarbeitern standen, wachsen nun in einem atemberaubendem Tempo die Blöcke neuer Siedlungen heran.

Altgediente Rezepte und Alternativen

Der Generalplan für die neuen Siedlungsgebiete, der Bauwirtschaft und Immobilienhandel im boomenden Madrid astronomische Gewinne verspricht, heisst «Planes de Actuación Urbanística» (PAU). Vorgesehen ist die Errichtung von mehr als einem Dutzend Siedlungen mit rund 300 000 Wohnungen. Im Madrider Norden gehören dazu neben den Luxussiedlungen La Florida und La Moraleja auch die Grosssiedlungen Las Tableras und Sanchinarro. Der renommierte spanische Architekturkritiker Luis Fernández- Galliano hat die Anlagen dieser heranwachsenden Siedlungen zu Recht als «urbanismo basura» - als Schrott-Urbanismus - kritisiert. Sie seien Ausdruck einer Bodenspekulation und eines korrupten Immobilienhandels, deren Lieblingsarchitektur sich durch eine traditionelle Ziegelverkleidung auszeichne. Der Madrider Generalplan folgt altgedienten Rezepten mit vielversprechender Rendite und setzt auf die Sprache eines rückwärts gewandten Urbanismus: Shopping-Malls mit Kreiselverkehr, geschlossene Wohnblöcke und leblose Strassen mit wenig Einzelhandel. Von einer städtischen Vision mit anspruchsvoller Architektur kann keine Rede sein.

Dass es auch anders geht, beweist eine kommunale Gesellschaft, die sich Empresa Municipal de la Vivienda (EMV) nennt. Die von der EMV in Auftrag gegebenen Projekte wirken fast wie blühende Oasen inmitten einer endlosen Wüstenlandschaft. An ihnen sind ambitionierte Architekten wie die Lateinamerikaner Legorreta, Salmona und Mendes da Rocha beteiligt, denen es darum geht, Alternativen zum marktorientierten Urbanismus aufzuzeigen. Zu den Wettbewerben der EMV werden meist auch ausländische Teams geladen, denen ein erstaunliches Mass an gestalterischer Freiheit zugestanden wird. - Die spanische Partnerin des Rotterdamer Büros MVRDV, Blanca Lleó, ist voll des Lobes für die Initiativen der EMV. Man fördere originelle Bauformen, die sich deutlich von den vorherrschenden geschlossenen und repetitiven Blockstrukturen des PAU mit ihren sechsgeschossigen Backsteinfassaden unterschieden. So haben MVRDV gerade eine Wohnmaschine fertiggestellt, die weit über die Stadtwüste von Sanchinarro hinausragt. Die markante Scheibe versteht sich als Gegenentwurf zum repetitiven Blockmuster des Sanchinarro-Viertels. Man merkt, dass einige Ideen aus Rem Koolhaas' Office for Metropolitan Architecture (OMA) stammen, wo die beiden MVRDV-Partner Winy Maas und Jacob van Rijs den letzten Schliff bekommen hatten. Besonders Koolhaas' Idee von «Bigness», verstanden als Schichtung programmatischer Einheiten zu einem einzigen architektonischen Gebilde, hat es den Architekten angetan. Was Koolhaas allerdings als Neuerfindung des Urbanismus begreift, nutzen sie zur Reformierung eines gleichförmigen Wohnungsbaus.

Die konstruktive Logik des Madrider Wohnhochhauses verrät, dass sie eine Variation ihres Amsterdamer «Silodam»-Wohnblocks (NZZ 7. 3. 03) anstrebten. Dort hatten sie die einzelnen, containerartigen «Blocksegmente» als konstruktive Elemente konzipiert, die - aufgrund gleicher Höhe und Farbe - gewissermassen eine wiedererkennbare Identität herstellen. Diese über- und nebeneinander gestapelten «Häuser in einem Haus» sollen nach dem Willen der Architekten die Herausbildung von «Mini-Nachbarschaften» unterstützen. Die hauptsächlich von Jacob van Rijs entwickelte Madrider Wohnscheibe funktioniert ähnlich. Die Addition verschiedener Nachbarschaften, an der Fassade ablesbar durch die Verwendung von Natursteinelementen und vorfabrizierten Betonplatten, wurde beibehalten. Dabei folgen die unterschiedlichen Wohnungstypen der von aussen erkennbaren Fassadenaufteilung. Allerdings bieten die einzelnen Segmente nicht ein Grundmuster identischer Wohnungen an, sondern im Grundriss die gleiche Abfolge unterschiedlicher Typen.

Wohnen in einer riesigen Skulptur

Verglichen mit dem «Silodam»-Gebäude, wurde die «Bigness» diesmal konsequenter umgesetzt, da sich die einzelnen «Häuser» zu einem urbanen Gebilde mit 22 Geschossen stapeln. Neu ist auch die auffällige Strukturierung des Superblock genannten Hochhauses durch einen orangefarbenen, weithin sichtbaren Zirkulationsweg. Er besteht aus privat und öffentlich genutzten Aufzügen sowie Treppen, die das Gebäude durchqueren und an der Fassade entlangführen. Dieser Weg, der den Block wie eine vertikale Strasse durchzieht, hatte sogar Einfluss auf die Konstruktion: Er fügt die einzelnen «Häuser» zu einem städtischen Komplex zusammen. Selbst die Wahl zweigeschossiger Wohneinheiten (Duplex) in der Attika und dreigeschossiger Typen (Triplex) unterhalb der Aussichtsplattform resultiert aus dieser Logik. Von der obersten Ebene der Maisonettes führen Treppen auf die Dachterrasse, die - über die Einöde von Sanchinarro - einen schönen Ausblick zum Guadarrama-Gebirge bietet.

Wenn dieser Superblock bereits zum Stadtgespräch geworden ist, dann nicht wegen seiner Grösse, sondern wegen seines auffälligen Lochs. Um jedes Déjà-vu zu vermeiden, entschieden sich die Architekten von MVRDV, über dem 12. Stockwerk einen 15 Meter hohen Hohlraum mit einer Aussichtsplattform von 550 Quadratmetern zu belassen, die schon jetzt zum Wahrzeichen von Sanchinarro geworden ist. Diese kann jedermann über den öffentlichen Aufzug erreichen, um die Aussicht zu geniessen.

Da Mietwohnungen bei den Spaniern verpönt sind, hält der Superblock nur Eigentumswohnungen bereit. Doch die EMV hatte festgelegt, 156 Einheiten als subventionierte Wohnungen anzubieten, die gut 50 Prozent unter dem marktüblichen Preis verkauft werden. Dass diese Preise nur mit gewissen Einbussen in der Ausführungsqualität möglich waren, lässt sich leicht ausrechnen. Zwar gehört die Geschosshöhe von 2,5 Metern auch in Spanien längst zur allgemein akzeptierten Norm. Aber der glückliche Besitzer einer Eigentumswohnung im 22. Geschoss wird sich damit abfinden müssen, dass er beim Blick auf die weite Landschaft der Zugluft, welche durch die Fensterritzen pfeift, ausgesetzt ist.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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