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Orientalische Formenspiele
Neue Zürcher Zeitung

Synagogenarchitektur in der Schweiz

23. Juli 2005 - Roman Hollenstein
Der deutschsprachige Raum besass einst einen unvergleichlichen Schatz an Synagogenbauten, der in der Reichspogromnacht fast gänzlich unterging. Eine Idee von der zerstörten Pracht vermag aber die jüdische Sakralarchitektur der Schweiz zu geben. Zu deren herausragenden Werken zählen etwa die beiden über 150 Jahre alten, perfekt erhaltenen und bald in neuromanischem, bald in maurischem Stil geschmückten Land-Synagogen von Ferdinand Stadler in Lengnau und von Caspar Joseph Jeuch in Endingen - oder die trotz ihrer orientalischen Farbigkeit diskrete St. Galler Synagoge von Chiodera & Tschudy, deren originale Innenausstattung heute der schönste Zeuge eines polychromen Synagogenraums in der Tradition von Gottfried Semper ist. Trotz weiteren wichtigen Bauten in Baden, Basel, Bern, Biel Luzern und Zürich sowie in La Chaux-de-Fonds, Delsberg, Genf, Lausanne und Lugano, denen zwei Abbrüche in Avenches und Pruntrut gegenüberstehen, gab es bis anhin kein Übersichtswerk über den Schweizer Synagogenbau.

Umso erfreulicher ist es, dass sich nun die Zeitschrift «Kunst + Architektur in der Schweiz» in ihrer neusten Ausgabe ganz dem jüdischen Sakralbau unseres Landes widmet. Diese vereint mehrheitlich Wissen, das dem Spezialisten, nicht aber dem interessierten Laien bekannt sein dürfte. Neben Exkursen zum jüdischen Leben im mittelalterlichen Basel und Zürich (wo 1996 das äusserst rare Beispiel einer profanen jüdischen Wanddekoration entdeckt wurde) finden sich Aufsätze zu den Surbtaler Judendörfern, zur bis heute aktuellen Frage «Langhaus oder Zentralbau?» oder zu den Synagogen in der Romandie, wo Genf mit der ältesten neuzeitliche Stadt-Synagoge der Schweiz (von Jean Henri Bachofen) aufwarten kann. Neues Material bietet ein Essay von Guido Kleinberger, der sich mit den beiden international bisher kaum beachteten Zürcher Synagogen des 20. Jahrhunderts befasst: dem Gemeindezentrum der Israelitischen Religionsgesellschaft an der Freigutstrasse, einem 1924 von Walter Henauer und Ernst Witschi erbauten Hauptwerk des Art déco, und der 1960 von Walter Sonanini in moderner Kastenform errichteten Synagoge der Agudas Achim an der Erikastrasse, die hier erstmals publiziert wird. - Das Heft ist erst ein Anfang; es weckt den Wunsch nach einer umfassenden Monographie zur Synagogenarchitektur in der Schweiz.

[Kunst + Architektur in der Schweiz. 2005.2. Hrsg. Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte (GSK). 80 S., Fr. 25.-.]

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