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Aufbruch am Öresund
Neue Zürcher Zeitung

Dynamische städtebauliche Entwicklungen in Malmö

Die lange vom Staat gegängelte schwedische Architektur steckt in der Krise. Gleichwohl versuchte Malmö vor vier Jahren, der Baukunst mit einer Wohnbauausstellung neue Impulse zu geben. Seither haben Calatrava sowie Diener & Diener die Stadt mit Gebäuden bereichert, die den Blick auch auf städtebauliche Entwicklungen lenken.

7. Oktober 2005 - Roman Hollenstein
Im Schatten der lebensfrohen dänischen Metropole Kopenhagen fristete Malmö, die Schwesterstadt jenseits des Öresunds, lange ein Mauerblümchendasein. Dabei besitzt die mit knapp 270 000 Einwohnern drittgrösste Stadt Schwedens neben einem historischen Zentrum auch ein Umland, das mit wogenden Getreidefeldern und hellen Stränden im Sommer auf Besucher aus Stockholm fast schon südlich heiter wirkt. Doch diese Vorzüge der einst stolzen Arbeiterstadt wurden durch eine hartnäckige Wirtschaftskrise verdüstert, die dazu führte, dass von der Textilfabrik bis zur Werftanlage ein Betrieb nach dem anderen seine Tore schliessen musste und bis in die neunziger Jahre über 30 000 Arbeitsplätze verloren gingen. Erste Silberstreifen liessen sich nach 1995 am Horizont ausmachen; und im neuen Jahrtausend profitierte auch Malmö vom jüngsten Boom der schwedischen Volkswirtschaft.

Die Brücke über den Sund

Entscheidend gestärkt wurde Malmös neu erwachtes Selbstbewusstsein durch das Jahrhundertwerk der Öresund-Brücke, die nach siebenjähriger Bauzeit am 1. Juli 2000 eröffnet werden konnte. Die 16 Kilometer lange Auto- und Eisenbahnverbindung zwischen dem dänischen Seeland und der südschwedischen Provinz Schonen verläuft zunächst in einem Tunnel vom Flughafen Kastrup zur Insel Peberholm. Dort beginnt die 8 Kilometer lange Brücke, deren Mittelstück aus einer 490 Meter langen Schrägseilkonstruktion besteht. Diese wird von vier 203 Meter hohen Pylonen getragen, den Wahrzeichen des neu entstandenen binationalen Wirtschaftsraums und Forschungsstandorts am Sund. In diesem leben auf einer Fläche, die etwa der halben Schweiz entspricht, rund 3,5 Millionen Einwohner.

Heute pendeln täglich einige tausend Schweden von Malmö mit Zug oder Auto auf einer gut halbstündigen Fahrt nach Kopenhagen, um dort vom reichhaltigeren Arbeits-, Kultur- und Freizeitangebot zu profitieren, während viele Dänen sich in Malmö niedergelassen haben - angelockt von einem attraktiveren Wohnungsangebot, niedrigeren Mietzinsen und günstigeren Lebenshaltungskosten. So munkelt man in Malmö, dass die 147 Wohnungen in Santiago Calatravas luxuriösem «Turning Torso» in diesen Tagen vor allem von zahlungskräftigen Dänen bezogen werden.

Malmös wiedergefundener Optimismus manifestiert sich aber nicht nur im Häuserbau, sondern auch im Ausbau der 1998 eröffneten Högskola, die heute in sechs Abteilungen rund 20 000 Studenten zählt. Sie ist Teil der 1997 gegründeten binationalen Öresund-Universität, der inzwischen 14 Hochschulen mit rund 140 000 Studenten und 12 000 Wissenschaftern angehören. Um der auf verschiedene Bauten in der Stadt verteilten Hochschule von Malmö ein Zentrum zu verleihen, wurde 1997 - also noch vor ihrer Eröffnung - ein internationaler städtebaulicher Wettbewerb ausgeschrieben mit dem Ziel, auf den nicht mehr der Schifffahrt dienenden, inselartigen Pieranlagen im historischen Innenhafen beim Hauptbahnhof den Campus Universitetsholmen zu realisieren. Mit ihrem von der Jury für seine «urbanistischen, architektonischen, funktionalen und ökologischen Qualitäten» gelobten Projekt, das vorsieht, «die bestehenden Hafenanlagen und Lagerhäuser weitgehend zu erhalten und in das Bebauungskonzept zu integrieren», schwangen die Basler Architekten Diener & Diener obenaus.

Wie ein geschliffener Diamant

Als zentralen Neubau entwarfen sie direkt am Wasser das rund 150 Meter lange und 50 Meter breite Orkanen-Gebäude, in welches sich in diesem Sommer das Lehrerausbildungszentrum und die Universitätsbibliothek einquartieren konnten. Bezieht sich seine Grossform auf die bald pittoresken, bald sachlichen Hafenbauten, die teilweise schon für universitäre Zwecke umgenutzt wurden, so verweist die bald opak und olivgrün, bald smaragdfarben und transluzent erscheinende Glashülle auf die strukturelle Erneuerung der Hafeninsel. Die von Moiré-Effekten belebte Architektur spiegelt sich im Wasser, blickt aber auch auf einen kleinen Vorplatz, der sich optisch bis zu den jenseits des schmalen Hafenbeckens gelegenen Baudenkmälern von Post und Hauptbahnhof weitet. Fünf hell verputzte Höfe gliedern das grosse, sechsgeschossige Volumen, das im Parterre passagenartige Querverbindungen bietet. In der Eingangshalle wird der öffentliche Charakter durch ein Café und einen Ausstellungsraum betont. Weiter finden sich in dem Gebäude Studienräume, Auditorien, eine Sporthalle und - als Anziehungspunkt - die Hauptbibliothek der Schule.

Ungünstig auf die Ausführung des Projekts wirkten sich die staatlichen Auflagen aus, die dazu führten, dass Diener & Diener ihre entworfene Innenraumgestaltung nicht realisieren konnten. So wirkt sich der durch staatliche Vorschriften beschränkte Spielraum der Architekten, obwohl er in jüngster Zeit etwas erweitert wurde, noch immer negativ auf die Baukultur aus. Dennoch träumt Malmö von Spitzenarchitektur, mit der es im internationalen Standortwettbewerb punkten kann. Nicht ohne Erfolg, denn mit dem geschliffenen Diamanten des Orkanen-Gebäudes hat Malmö eine baukünstlerische Ikone erhalten - zumindest, was die schöne Hülle anbelangt.

Malmö am Meer

Vom Festland führen heute eine neue Fussgängerbrücke und die ebenfalls erst kürzlich eröffnete Universitetsborn hinüber zum bald neokubistisch, bald neoexpressiv wirkenden Neubau, der das Scharnier zwischen der Altstadt und einem weitläufigen Entwicklungsgebiet bildet. Denn hinter dem Orkanen-Haus weitet sich die nahezu achteckige, fast gänzlich von Kanälen, Hafenanlagen und Meer begrenzte Halbinsel des Västra Hamnen genannten Westhafens. Auf dem 150 Hektaren grossen Areal, das einst von der Kockums- Werft und danach zum Teil von den Fabrikationshallen des Autoherstellers Saab-Scania belegt war, erblickt man als ersten Orientierungspunkt ein dreieckiges Sechziger-Jahre-Hochhaus mit konkav geschwungenen Fassaden. Dann geht es vorbei an alten Schuppen, Baustellen und dem etwas verloren dastehenden Stadtarchiv zum rund einen Kilometer nördlich der Altstadt gelegenen Dockplatsen, der bald schon das pulsierende Herz des neuen Dockan-Viertels werden soll. Auf dem in den Aussenhafen hineinragenden Pier sind schon die ersten Wohnhäuser vollendet. In drei weiteren Bauphasen sollen rund um das künftig als Jachthafen genutzte und von einer Fussgängerpromenade gefasste Dock sechsgeschossige Wohnblocks entstehen, während am Dockplatsen ein zwanzigstöckiger Doppelturm als Tor zu dieser neuen Wasserwelt geplant ist, in welcher dereinst gewohnt, gearbeitet und studiert werden soll. Bereits umgebaut für die Designabteilung der Hochschule sind zwei westlich an das Dockan-Viertel anschliessende Industriehallen. Sie sollen später einmal den Übergang zu einem Geschäftsviertel mit Parkanlage markieren.

In dem nach ökologischen Grundsätzen konzipierten Stadtteil Västra Hamnen werden Fussgänger und Radfahrer besonders bevorzugt. Es gibt jedoch auch schon eine Buslinie - und demnächst wird ein Strassentunnel die Anbindung an den Innenstadtring gewähren. Zurzeit aber steht die Designhochschule noch mitten im Ödland, aus dem sich in der Ferne wie eine Fata Morgana der 190 Meter hohe «Turning Torso» von Calatrava erhebt. Südwestlich des Turms bildet die umgebaute Halle 7 der einstigen Kockums-Werft, die später eine Automontagehalle war und nun als Messestandort dient, den Kondensationskern des künftigen Saab-Quartiers. Südlich davon ist ein weiteres Wohn- und Bürogeviert geplant, für dessen ersten Bau, das siebengeschossige, aus zwei über einem Sockelbau schwebenden Baukörpern bestehende Hotel «Bilen 5», bereits Pläne des norwegischen Büros Ramstad & Bryn vorliegen.

Malmös Öffnung hin zum Meer verkörpert aber weiterhin der Calatrava-Turm, der sich dank seiner stählernen Wirbelsäule waghalsig in den Himmel schraubt. Westlich von ihm erstreckt sich jenseits eines Wasserbiotops, des Anker-Parks, bis hin zum Öresund das schönste Neubauquartier der Stadt. Sein südlicher, zwischen dem Scania-Platz und einem kleinen Jachthafen gelegener Bereich wurde im Hinblick auf die Bomässa genannte Wohnausstellung «Bo01» realisiert. Im Gegensatz zu früheren schwedischen Baumessen wurde die im Sommer 2001 durchgeführte Veranstaltung erstmals international ausgerichtet, weshalb neben bekannten schwedischen Architekten wie Gert Wingrdh und Ralph Erskine auch der Finne Kai Wartiainen, der Schweizer Mario Campi und das amerikanische Büro Moore Ruble Yudell mit Aufträgen betraut wurden. Auch wenn damals das Echo wegen architektonischer Vorbehalte eher verhalten blieb (NZZ 6. 7. 01), vermag dieses Quartier urbanistisch und von der Lebensqualität her zu überzeugen.

Im Hinblick auf die Baumesse bestimmte die Stadt 32 Teams von Architekten und Investoren, die die einzelnen Grundstücke auf dem Areal, das sie zuvor dem Autokonzern Saab abgekauft hatte, nach neusten ökologischen Gesichtspunkten bebauen sollten. Seit Abschluss der «Bo01» sind zudem am Scania-Platz ein U-förmiger Zentrumsbau mit Wohnungen und Geschäftslokalitäten sowie nördlich davon die beiden malerisch bunten, auf einen zentralen Wasserlauf ausgerichteten Reihenhauszeilen des «Europäischen Dorfes» entstanden. Ihm zum Meer hin vorgelagert ist der von Thorbjörn Andersson, einem Star der schwedischen Landschaftsarchitektur, mit Grünflächen, Holztreppen und Aussichtsplattformen gestaltete Daniaparken, der zusammen mit den Boulevardcafés an der Sundspromenaden als neue Attraktion von Malmö gilt.

Ökologische Zukunftsstadt

Akzente an der meist fünfgeschossig bebauten Uferpromenade setzten das in einer hohen Maisonettedachwohnung gipfelnde Scaniaplatsen- Gebäude von Erskine und das von einer geometrisch-abstrakten Fassade geprägte Kajplats-Haus von Wingrdh. Diese städtische Häuserfront soll die dahinter gelegenen Wohnzonen vor stürmischen Westwinden schützen. Niedrige Blocks, Reihenhäuser und Einzelbauten wechseln hier mit kleinen Grünanlagen und Teichen ab. Anders als etwa die völlig durchgestalteten Parkanlagen in Zürich-Nord, die zwar von der Fachwelt gelobt, von der Bevölkerung aber kaum genutzt werden, sind hier die weniger auf vordergründige Effekte ausgerichteten Freiräume bei den Bewohnern beliebt. Überhaupt wirkt dieses über einem verschachtelten Grundriss errichtete Neubauviertel, in dem sich die schöne Lage am Sund mit kleinstädtischer Intimität vereint, trotz seiner eher mittelmässigen Architektur sehr attraktiv.

Ungewiss ist allerdings, ob der heutige Eindruck, man befinde sich in einem gewachsenen Ensemble und nicht in einer Retortensiedlung, auch anhalten wird, wenn Västra Hamnen dereinst voll ausgebaut sein und 10 000 Einwohner sowie 20 000 Arbeits- und Studienplätze zählen wird. Die Stadt Malmö tut aber alles, um den Einwohnern mit neusten urbanistischen Erkenntnissen das Leben zu versüssen. - Und dann ist da ja auch noch die Sundspromenaden, auf der man sich sogar an einem windig nassen Sonntag hinter grossen Fensterscheiben bei einer Insalata caprese wie in den Ferien fühlen kann. In diesem Paradies des Mittelstandes ist von den düsteren Krisenzeiten nichts mehr zu spüren. Vielmehr erlebt man hier hautnah, wie sich die boomende Region am Öresund als Stadt der Zukunft zu definieren sucht, in welcher Mensch und Natur wieder möglichst in Einklang leben.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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