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Nackte Hüllen und Trugbilder
Neue Zürcher Zeitung

Eine Ausstellung zur Denkmalpflege in Dresden

Der Streit, ob historische Bauten nur konserviert und restauriert oder aber rekonstruiert werden sollen, ist drei Dekaden nach dem Europäischen Denkmalschutzjahr von 1975 noch nicht entschieden. Nun beleuchtet eine Ausstellung von internationalem Rang im Dresdner Residenzschloss vielfältige Aspekte der Denkmalpflege in Deutschland.

21. Oktober 2005 - Roman Hollenstein
Das Areal der ehemaligen Dresdner Altstadt erlebt derzeit einen dramatischen Wandel. Wo nach der Wende nur Ödland war, ist rund um die soeben vollendete Frauenkirche das Neumarktquartier im Entstehen. Touristenscharen nehmen erstaunt zur Kenntnis, wie eine wachsende Zahl historisch bekleideter Betonkonstruktionen diesen Jurassic Park des Barocks zu bevölkern beginnen. Hier wird man Zeuge davon, wie die einst prächtige, durch Krieg und Wiederaufbau geschundene Stadt mit einer architektonischen Beschwörung verlorener Ansichten ihre Identität zumindest maskenhaft zurückzugewinnen sucht. Man befindet sich aber auch am Austragungsort eines Denkmalstreits, der nach 1989 mit der Schleifung verhasster Standbilder einsetzte, sich in Dresden und andernorts an der Rekonstruktion zerstörter Bauten erhitzte und sich nun angesichts der drohenden Entsorgung des Palastes der Republik, eines erstrangigen Berliner Baudenkmals, zuspitzt.

Vom Umgang mit Monumenten

Immer geht es dabei um Bilder der Erinnerung, die Vertrautheit schaffen und den anonym gewordenen Städten ein unverwechselbares Gesicht zurückgeben sollen. Dabei kennen die meisten heutigen Bewohner das einstige Aussehen ihrer Städte höchstens von vergilbten Fotos. Was derzeit in der sächsischen Hauptstadt entsteht, hat denn auch mit dem Alltag der Dresdner kaum etwas zu tun, kommen sie doch - wie ungezählte Tagesausflügler - nur ins Zentrum, um durch eine baulich rekonstruierte Geschichte zu flanieren oder einzukaufen. Kann das Grund genug sein, um eine Stadt 60 Jahre nach der Zerstörung aufgrund alter Aufnahmen und einiger zufälliger Pläne in vermeintlich historischer Form wiederauferstehen zu lassen? Oder ist diese Stadtrekonstruktion nur eine überdeutliche Absage an den unbefriedigenden Urbanismus unserer Zeit? Macht man sich so aber nicht der Geschichtsklitterung schuldig - in Dresden wie in Berlin, wo bedeutende Bauzeugen der DDR zerstört und gleichzeitig Nazibauten wie die Reichsbank oder das Luftfahrtministerium für die bundesdeutsche Regierung umgenutzt werden?

Auf diese und andere Fragen gibt nun die Ausstellung «Zeitschichten» im Dresdner Residenzschloss mehr oder weniger klare Antworten. Die mit über tausend Exponaten - von gotischen Ritzzeichnungen über das 150-jährige Rekonstruktionsmodell der Wartburg und alte Bildarchive bis hin zum Mobiliar des Bonner Plenarsaals - verwirrend reich bestückte Schau beleuchtet alle möglichen Aspekte der deutschen Denkmalpflege seit ihren Anfängen bei Goethe und bei Schinkel. Damit erweist sie sich weit über Deutschland hinaus als relevant für die Denkmaldiskussion. Im Zentrum steht - gleichsam in einer Schau in der Schau - der Kunsthistoriker Georg Dehio (1850-1932), dessen vor exakt hundert Jahren erschienener erster Band des wegweisenden «Handbuchs der deutschen Kunstdenkmäler» einen Höhepunkt der Geschichte der Denkmalpflege markiert. Im Kampf gegen die Rekonstruktionssucht seiner Zeit forderte Dehio, bauliche Zeugnisse nicht anders zu behandeln «als andere Quellen der Geschichte», da deren historischer Wert wichtiger sei als der ästhetische. Von den Vorgängen in Dresden und von den Berliner Projekten wäre Dehio wohl kaum erbaut, lautete sein rigoroser Leitsatz doch «konservieren, nicht restaurieren». Entschieden distanzierte er sich von Viollet-le-Ducs Theorie der «stilreinen Verbesserung» und teilte John Ruskins Idee des «konservierenden Erhaltens». So bekämpfte er 1901 in der Streitschrift «Was wird aus dem Heidelberger Schloss werden?» den Wiederaufbau der Schlossruine. Denn: «Scheinaltertümer hinzustellen ist weder wahre Kunst noch wahre Denkmalpflege.»

Unserer Zeit sind Dehios Gebote bereits zu radikal; und auch die Denkmalpflege wägt heute in Einzelfällen vorsichtig ab. Mehr noch als der Dresdner Neumarkt veranschaulicht dies der Ort der Ausstellung selbst: das kriegsbeschädigte Residenzschloss, welches «als Zentrum der Kunst und Wissenschaft» neu gestaltet und nach historischen Abbildungen rekonstruiert wird. In der als rohe Betonstruktur wiedererrichteten Schlosskapelle und in den einstigen Prunkräumen sind derzeit die Restauratoren tätig. Doch genügen der Thronsessel von August dem Starken, einige Silberobjekte, Gemälde und die Aufnahmen der verlorenen Deckenfresken, um das Audienzgemach in seiner symbolischen und zeremoniellen Pracht wiederauferstehen zu lassen? Oder sollten diese Überbleibsel nicht besser in den kahlen, ungeschönten Raumhüllen gezeigt werden? Die Verfechter der Rekonstruktion können in der Ausstellung indes darauf verweisen, dass der Kölner Dom oder die Wartburg im 19. Jahrhundert nicht nur restauriert, sondern als Nationaldenkmäler weitgehend neu errichtet wurden.

An Beispielen wie der 1906 abgebrannten und sogleich wiederaufgebauten St.-Michaelis-Kirche in Hamburg, den gescheiterten Rekonstruktionsversuchen der römischen Thermen von Trier oder der Restaurierung des Bauhauses in Dessau wird der Geschichtlichkeit des Denkmals im Kontext von Konservieren, Restaurieren, Ergänzen, Sanieren und Rekonstruieren nachgespürt. Aber auch die in der jüngsten Vergangenheit vorgenommene Aufwertung von Wohnanlagen, Fabriken und Verkehrsbauten zu Baudenkmälern wird angesprochen. Diese Vermehrung von Schutzobjekten führte dazu, dass sich der Staat - nicht nur in Deutschland - aus Geldmangel immer mehr seiner Pflicht entzieht und die «Bereinigung der Denkmal-Listen» fordert. Einen Ausweg bieten da mitunter Umnutzungen, die nicht selten zu meisterhaften Lösungen führen.

Das Bauwerk als Symbol

Die für Dehio so wichtigen Zeitschichten werden heute im Umgang mit klassisch modernen Bauten weniger hoch gewertet als die Idee des Architekten. Dass das Bewahren von Zeitschichten manchmal aber auch bei altehrwürdigen Denkmälern problematisch werden kann, wird am Braunschweiger Dom und an den mittelalterlichen Reichsburgen thematisiert, die von den Nazis zu Kultorten für Heinrich den Löwen, den «grossen Kolonisator des Ostens», und damit zu politischen Symbolen umgestaltet wurden. Auch das Brandenburger Tor, welches mit Originalbronzen, Gipsabgüssen und Zeichnungen den spektakulären Ein- und Ausgang der Schau darstellt, wurde im Laufe seiner wechselvollen Geschichte stets als Symbol gelesen: vom Friedens- über das Siegesmonument bis hin zum Inbegriff von Teilung und Wiedervereinigung.

Am Schluss der Ausstellung werden die praktische Denkmalpflege, ihre Theorie, ihre Methoden und ihre handwerklichen Vorgehensweisen dargelegt. Die Inszenierung all dieser Themen verwandelt die Schau mitunter in einen Irrgarten. Klärung gibt hier der Katalog, der Einzelaspekte analysiert, aber auch Gesamtperspektiven skizziert und damit zum unentbehrlichen Handbuch für all jene werden dürfte, die sich vertieft mit Fragen der Denkmalpflege auseinandersetzen möchten.

[ Bis 13. November. Katalog: Zeitschichten. Erkennen und Erhalten. Denkmalpflege in Deutschland. Hrsg. Ingrid Scheurmann. Kunstverlag, München 2005. 340 S., Euro 24.90. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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