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Erfinder einer neuen Italianità
Neue Zürcher Zeitung

Der Architekt Gio Ponti im Londoner Design Museum

Dem Mailänder Architekten, Gestalter und Publizisten Gio Ponti (1891-1979) widmet das Londoner Design Museum eine grosse Retrospektive. Ponti wurde mit seinen Entwürfen und der Zeitschrift «Domus» zum Begründer des neuen italienischen Designs. Ausserdem gilt sein Pirelli-Turm in Mailand als Meisterwerk der Hochhausarchitektur.

9. Juli 2002 - Roman Hollenstein
Seine klassizistisch dekorierten Vasen, seine ultraleichten Stühle, seine bunten Stoffe und seine Bauten sind längst zu Kultobjekten der «Wallpaper»-Generation geworden. Der 1891 geborene Mailänder Architekt, Designer, Künstler und Publizist Gio Ponti war aber weniger an Luxusprodukten interessiert als vielmehr an industriell gefertigten Gegenständen für jedermann. In seinem überaus reichen Œuvre vereinigen sich denn auch früh schon der Geist der klassisch-metaphysischen Novecentisten mit jenem der Futuristen und der Rationalisten zu Metaphern einer neuen, heiter-eleganten Italianità.

Ponti war ein Klassizist im klassischen Sinne: ein Allrounder, der - ähnlich wie einst Robert Adam in London - Villen, Bürohäuser und Kathedralen mit Hilfe von Künstlern, Handwerkern, Technikern und Ingenieuren in Gesamtkunstwerke verwandelte und der von der Gabel bis zum Wolkenkratzer die Welt ganzheitlich durchgestalten wollte: ganz einfach um das Leben zu verschönern. Dabei unterschied er sich von den nördlich der Alpen tätigen Avantgardisten dadurch, dass er von einer bunten, mediterranen Moderne träumte und dass ihm jeder Dogmatismus und jedes Denken in einengenden Stilkategorien zuwider waren. Im Mittelpunkt seines künstlerischen Credos standen die Begriffe Toleranz und Pluralismus. Diese verkündete er in der Anfang 1928 von ihm ins Leben gerufenen Architektur- und Designzeitschrift «Domus», die er mit einem Unterbruch in den vierziger Jahren bis zu seinem Tod am 16. September 1979 leitete und die massgeblich für den kometenhaften Aufstieg des italienischen Designs nach dem Zweiten Weltkrieg verantwortlich war. Wie sehr sich Ponti als Vermittler und Förderer verstand, zeigen ausserdem die «Ponti-Triennale» von 1933, mit der er den jungen Rationalisten den Weg ebnete, und der Compasso d'Oro, den er 1954 als vornehmste italienische Design-Auszeichnung initiierte.

Nun widmet das Londoner Design Museum diesem bedeutenden, aber lange unterschätzten Gestalter die erste grosse Retrospektive seit Jahren: eine berauschende Ausstellung - nicht nur weil sie atmosphärisch verdichtet wird durch die heiter-melancholischen Klänge von Glucks «Orphée» und Strawinskys «Pulcinella», für deren Aufführungen an der Scala Ponti nach dem Zweiten Weltkrieg Bühnenbilder und Kostüme entworfen hatte. Die von Marco Romanelli betreute, von einem nützlichen Katalog begleitete Schau basiert stark auf der von Lisa Ponti herausgegebenen Prachtsmonographie von 1990, die Pontis Œuvre in sechs den Geist der jeweiligen Dekade reflektierende Kapitel gliedert. Dieses Konzept wird in der Schau überzeugend umgesetzt mit inselartigen Präsentationen, die vielfältige Durchblicke und Bezüge erlauben. Auftakt machen die phantastischen, ab 1923 für Richard-Ginori kreierten Majoliken mit ihren antikisch-architektonischen Dekors, in welchen Pontis Welt bereits im Keime aufscheint. Ist sein erster Bau, ein 1926 an der Via Randaccio in Mailand errichtetes Wohnhaus, noch dem novecentesken Manierismus verpflichtet, so kündigt sich in den Mailänder Typenhäusern schon der Rationalismus an. Dieser wird 1936 im Montecatini-Bürohaus mit seiner flachen Fassadenhaut und dem leicht geschwungen in den Himmel schiessenden Mittelteil futuristisch aufgeladen, ohne dass dabei aber jene kubischen Formen preisgegeben werden, die den Schweizer Minimalismus eines Roger Diener vorwegzunehmen scheinen. In diesen Jahren entstehen ausserdem der Rasini-Wohnturm, der sich wie ein gebautes Bild von Carlo Carrà an der Porta Venezia erhebt, das surrealistisch-moderne Gebäude der Mathematischen Fakultät in Rom, der von Ponti mit magischen Fresken ausgemalte Palazzo Bo der Universität Padua und die enigmatischen Villen in Bordighera.

«La cornuta», die chromglänzende, für «La Pavoni» entwickelte Kaffeemaschine wird 1948 Pontis erster Beitrag an die neu erwachende Kultur des Dolce Vita im kriegsversehrten Mailand. Mit ihr beginnt auch Pontis Liebe zur Industrie: In enger Zusammenarbeit mit experimentierfreudigen Unternehmern entstehen Design-Ikonen wie der nur 1,7 Kilogramm schwere «Superleggera»-Stuhl für Cassina oder das Conca-Besteck für Krupp Italia, aber auch Lavabos, Fliesen, Stoffe oder die für Altamira in New York geschaffenen Wandmöbel. Pontis Arbeiterwohnblocks im Mailänder Harrar-Dessié-Quartier, die formal aus unserer Zeit stammen könnten, kündigten bereits 1950 den frivol-verspielten Modernismus der Wirtschaftswunderjahre an. Die von einem schwebenden Dach bekrönte Villa Planchart in Caracas erweist sich als ein bis hin zur letzten Konsole durchdachtes Kunstwerk, während das 1961 eingeweihte Pirelli-Hochhaus ein neues Italien symbolisiert und darüber hinaus zum gebauten Manifest der von Ponti in den vierziger Jahren entwickelten Theorie einer kristallinen Architektur wird. Diese verfeinerte er in den Kirchen von Mailand, im Kunstmuseum von Denver und mehr noch in der ganz aus dem Hexagon heraus gedachten Kathedrale von Taranto (1964-70), seinem letzten Meisterwerk, das wie kein anderer Bau Pontis Streben nach optischer und materieller Leichtigkeit vergegenwärtigt.

Auch wenn die Londoner Schau mit einem kristallinen Hochhausmodell schliesst, kommt die Architektur - obwohl sie immer der Kondensationskern in Pontis Schaffen war - visuell etwas zu kurz. Gleichwohl spürt man stets, dass Ponti vom Schmetterlingsstuhl bis zum Kraftwerk alles unter dem vielleicht etwas naiven, aber gerade deswegen für ihn so charakteristischen Motto «Amate l'architettura» gestaltete. Weil ihm Dekoration, Form und Design wichtiger waren als der Raum und weil er sich nie zu einer streng modernistischen Haltung durchringen wollte, blieb sein widerspruchsvolles, zwischen Klassizismus und Moderne, zwischen Kunst und Architektur, zwischen Handwerk und Industrie changierendes Schaffen in Fachkreisen bis heute umstritten - ausgenommen die zusammen mit Pier Luigi Nervi errichtete Torre Pirelli. Nicht nur die Londoner Schau belehrt nun die Kritiker eines Besseren. Auch die Ausstrahlung von Pontis Werk in die heutige Zeit bestätigt dessen ungebrochene Aktualität. Ponti war gleichermassen ein Wegbereiter von Memphis und Postmoderne wie des architektonischen Pluralismus unserer Zeit. Die kristalline Hülle des neuen Basler Fussballstadions, die «tätowierte» Haut der Bibliothek von Eberswalde oder die mit der Villa Planchart verwandte Kramlich-Residenz beweisen, wie stark sich Pontis Sprache selbst auf Vordenker wie Herzog & de Meuron auswirkt.


[Bis 6. Oktober im Design Museum London. Katalog: Gio Ponti. A World. Hrsg. Marco Romanelli und Design Museum London. Abitare Segesta, Mailand 2002. 156 S., £ 15.95.]

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