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„Das Urteil spricht erst die Geschichte“
Der Standard

Friedrich Achleitner über Qualitäten und Fragwürdigkeiten nationalsozialistischer Architektur

5. November 2005 - Ute Woltron
der Standard: Kann man den Begriff „NS-Architektur“ prinzipiell auf Gebäude aus den Jahren von 1938 bis 1945 reduzieren?
Friedrich Achleitner: Sicher nicht. Für mich ist die nationalsozialistische Architektur ein Phänomen des Historismus des 19. Jahrhunderts: Man bediente sich historischer Formen und adaptierte diese für die eigenen politischen Zwecke. Damit kann architektonische Qualität erzeugt und gleichzeitig missbraucht werden. Architektur kann man nicht nur inhaltlich und ideologisch bewerteten. Es gibt immer auch einen autonomen Kern, in dem die Qualität des Gebauten einfach ein Faktor ist. Es gibt etwa genauso grausliche klassizistische Gebäude wie feine, kultivierte und hochinteressante. Das Urteil spricht meist erst die Geschichte.

Welche Bauaufgaben lassen sich in der NS-Zeit unterscheiden und über welche architektonischen Qualitäten verfügen sie?
Achleitner: Es gibt drei Bereiche: Wohnbau, Industriebau und Parteibauten. Der NS-Wohnbau hat die Ideen von Heimatschutz- und Gartenstadtbewegung fortgesetzt, die sich ab der Jahrhundertwende entwickelt hatten, was allerdings nicht mit dem „Heimatstil“ verwechselt werden sollte. Dabei handelte es sich um eine kritische, durchaus positive Auseinandersetzung mit dem Geist des Liberalismus und der Industrialisierung (Gründerzeit), und das war eigentlich eine moderne Bewegung, die sich der bürgerlichen (biedermeierlichen) Baukultur annahm. Die Nazis haben sie später vereinnahmt und für ihre Ziele missbraucht. Das Ergebnis sind etwa die Werkssiedlungen der „Hermann-Göring-Werke“ oder die „Südtiroler-Siedlungen“, heute noch brauchbare und von den Bewohnern geschätzte Wohnanlagen. Die Qualitäten liegen in der Schaffung von Wohnidyllen und in der Betonung des Handwerklichen im Bauen. Sie sind also auch als zynische Kaschierungen der damaligen politischen Wirklichkeit zu verstehen.

Die „modernste“ Architektursprache zeigt jedoch der NS-Industriebau.
Achleitner: Viele Architekten, die keine Nazis waren, sind auf diesem Gebiet gewissermaßen untergetaucht, um „anständigen“ modernen Industriebau zu machen. Dort konnten sie ihre funktionalistischen Träume verwirklichen. Es gab ja auf diesem Gebiet auch die fortschrittlichsten Entwicklungen, was etwa Standardisierung und Bautechnologie angeht. Wenn Leute heute behaupten, „nicht alles war schlecht unterm Hitler“, dann sind auch solche Phänomene damit gemeint. Dass dahinter eine aggressive Rüstungsindustrie und Weltherrschaftsfantasien standen, vergisst man natürlich.
Die meistbeachteten Nazi-Architekturen sind die politischen Machtbauten. Wie beurteilen Sie
deren Qualität?
Achleitner: Dazu gibt es nicht viel zu sagen. Architekten wie Albert Speer haben diese Machtarchitekturen mit den Mitteln des Klassizismus ins Maßstablose gesteigert und im Detail vergröbert.

Wie soll man heute mit solchen Relikten umgehen?
Achleitner: Günther Domenig hat in Nürnberg gezeigt, wie man zu solchen Monstern architektonisch Stellung nehmen kann, ohne ihre Erbärmlichkeit zu vernichten. Hier verhindert ihre Erhaltung eine falsche Mythenbildung. Ich meine, man sollte der Geschichte ins Auge schauen. Ihre Vernichtung ist jedenfalls die archaischste, die primitivste und auch die gefährlichste Form, damit umzugehen, weil dadurch falsche Mythen entstehen.
Wie man mit architektonischen Zeitzeugen umgeht, hängt natürlich auch von der Wertigkeit der Gebäude ab. Es ist ein Unterschied, ob man die Flaktürme abreißt oder die Ausstattung eines Zimmers wegräumt. Gebäude sind historische Quellen. Als Objekte gehören sie einfach zu unserer Geschichte. Und die beste Information ist immer noch das Sichtbare.

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