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Die Architektur stellt nur das Bühnenbild
Der Standard

Der Soziologe und TU-Wien-Professor Jens S. Dangschat im Gespräch mit Ute Woltron über städtebauliche Monokulturen, architektonische Arroganz und die soziale Verantwortung von Architektur.

19. November 2005 - Ute Woltron
der Standard: Gibt es eine Verantwortung der Architektur und des Städtebaus für unterschiedliche soziale Entwicklungen?
Jens Dangschat: Nein, aber es ist wichtig, über diesen Themenkreis nachzudenken, denn es gibt zumindest indirekte Zusammenhänge. Beginnen wir mit der Anspruchshaltung von Städtebau und Architektur, wenn die Sonne scheint: Dann hat man oft den Eindruck, man könne durch die Art der städtebaulichen Gestaltung und der Architektur nicht nur etwas Gutes für die Menschen tun, sondern die Gesellschaft damit auch prägen.

Das begann bereits mit der Gartenstadtidee, mit der man für die industrielle Gesellschaft bessere Rahmenbedingungen schaffen wollte. Das gilt aber auch für den sozialistischen Wohnbau, für den experimentellen Wohnbau, und das gilt ebenso für Stadtverwaltungen, die versuchen, über Sanierungen Gesellschaftsreparatur zu betreiben. Es ist also immer wieder die Intention da, mit dem Bauen die Gesellschaft positiv zu beeinflussen. Umgekehrt aber, wenn solche Dinge wie in Frankreich passieren, sagen Architekten und Stadtplaner: Wir sind's nicht gewesen.

DER STANDARD: Wer oder was ist es dann?
Dangschat: Hier sind wir bei gesellschaftlichen Entwicklungen angelangt. Denn gesellschaftliche Strukturen bilden sich in den unterschiedlichen Stadträumen ab. Die Frage lautet also: Warum gibt es bestimmte soziale Konstellationen in bestimmten städtebaulichen und funktionalen Settings und in anderen nicht. Wenn man sich dabei nur auf die architektonische Formensprache, die vermeintliche Qualität der Gebäude und auf ihr Umfeld bezieht, dann greift man zu kurz. Die Rolle der Architektur ist nur die eines Bühnenbildes. Was auf der Bühne gespielt wird, hat sie nicht in der Hand. Aber natürlich legt ein bestimmtes Bühnenbild eher etwas nahe als ein anderes. Man muss sich also die sozial-räumlichen Prozesse anschauen: Welche Leute wohnen hier, und warum? Was passiert über den Wohnungsmarkt und die kommunale Belegungspolitik? Was passiert in diesen Quartieren, die man soziale Brennpunkte nennt?

DER STANDARD: Klassentrennung?
Dangschat: Natürlich. Wir gehen immer davon aus, dass Chancengleichheit besteht, doch sie besteht immer weniger. Das hat mit der Architektur überhaupt nichts zu tun, das Problem ist, dass die brüchigen Biografien sich an bestimmten Orten konzentrieren oder konzentriert werden. Das sind die städtebaulich schlechtesten Orte, die vom Wohnungsmarkt am wenigsten gewünschten, das sind die aufgegebenen Stadtteile. Es handelt sich bei solchen Gebieten entweder um schlecht oder nicht sanierte Altbaugebiete oder um Großsiedlungen, beide mit städtebaulichen und architektonischen Problemen versehen. Denn diese Großsiedlungen haben, seit sie gebaut wurden, eine erhebliche Umwertung erfahren.

DER STANDARD: Damals galten sie allerdings als ambitionierte Meilensteine des Städtebaus.
Dangschat: Das waren tatsächlich alles Vorzeigeprojekte in den 70er-Jahren: engagierte Architektur und bewusst inszenierte städtebauliche Anlagen, von denen man behauptete, sie seien die neue Form des Wohnens und Bauens. Die Architekten meinten: So wohnt der Mensch, dem wir Naturnähe geben und der mit dem Nahverkehr dennoch in relativ kurzer Zeit in der Stadt zur Arbeit fahren kann. Allerdings hat man nie zuvor in der Geschichte so monostrukturell gebaut wie in den vergangenen 50 Jahren. Man hat dabei völlig übersehen, dass man erstmals keine Stadtteile, sondern spezialisierte Viertel baute, und es stellt heute ein großes Problem dar, dass man mit der Trennung der Funktionen auch gesellschaftliche Zusammenhänge zerrissen hat, was sich allenfalls durch aufwändige Verkehrssysteme wieder miteinander verbinden lässt. Diese monostrukturellen Gebiete können unter Umständen innerhalb kürzester Zeit umgewertet werden. Sie verlieren schnell an Image und Attraktivität, es entstehen Leerstände, und die werden in der Regel mit noch größeren „Hinkebeinen“ der Gesellschaft aufgefüllt, die oft Probleme mit sich selbst haben und sich untereinander weitere Probleme machen.

DER STANDARD: Provokant formuliert: Gelegentlich nehmen die Architekten an, die Menschheit bedürfe noch einiger evolutionärer Schritte, um gewisse Architekturen wertschätzen zu können?
Dangschat: Ich behaupte, die Architekten nehmen Differenzierungen wichtig, die ein normaler Bürger überhaupt nicht wahrnimmt. Es ist also fraglich, ob die Bewohner nicht ganz andere Qualitätsansprüche haben als die Städtebauer. Ich stehe der Frage, was denn nun gute Architektur sei, sehr skeptisch gegenüber. Da gibt es sogar innerhalb der Architektenschaft eine erhebliche Diskrepanz im Diskurs, der dann nicht selten mit der Aussage endet: Ein guter Architekt weiß schon, was gute Architektur ist.

DER STANDARD: Ein klassisches Totschlagargument.
Dangschat: Ein Totschlagargument, sinnleer und eigentlich arrogant. Wir bräuchten wissenschaftliche Erhebungen, um besser zu wissen, von welchen Gruppen welche Art der Wahrnehmung und Differenzierung des gebauten Raumes wie bewertet wird. Dann kommt noch dazu, dass die Architekten seit einiger Zeit einen intensiven Diskurs betreiben, in dem es sich nur noch um die Namen der einzelnen Architekten dreht. Wenn ein Norman Foster etwas baut, dann ist das unantastbar und einfach gut. Das ist reines Marketing, das dann eine weitere problematische Ebene gewinnt, wenn Städte um diese Namen zu wetteifern beginnen und alle eine Hadid, einen Gehry, einen Foster und was weiß ich noch haben wollen. Diese internationale Szene schwebt über allem, und daran orientieren sich die Städte mit ihren Inszenierungen der „Neuen Stadt“. Dort konzentriert sich das Engagement der Architektur und des Städtebaus.
DER STANDARD: Letztlich sind selbst Architekturheroen wie Le Corbusier mit ihren großformatigen Stadtvisionen gründlich gescheitert.
Dangschat: Das erste solcher Häuser, die in Frankreich abgerissen wurden, war ein Corbusier-Gebäude in Lyon.

DER STANDARD: Andererseits gibt es bekennende Corbusier-Freaks, die heruntergekommene Quartiere sanieren.
Dangschat: Das sind Leute, die Corbusier grundsätzlich gut finden und total begeistert sind von seiner Architektur. Sie sagen: Aus diesen Mauern atmet der Geist des Genius. Andere Teile desselben Ensembles sind heruntergekommen und ganz anders belegt oder stehen leer. Die Leute, die dort wohnen, interessieren sich für Corbusier herzlich wenig.

DER STANDARD: Gibt es heute weniger soziales Engagement innerhalb der Architekturszene denn je?
Dangschat: Es gibt einen gewissen Anteil unter den Architekten, der wieder stärker über gesellschaftliche Verantwortung nachdenkt. Das sollte bereits in die Aufgabenstellungen des Entwerfens an den Universitäten einfließen. Es darf keine Architekturproduktion per se geben. Wir brauchen ein anderes Verständnis, natürlich muss man an erster Stelle das Kerngeschäft der Architektur beherrschen, es muss aber darüber hinaus auch andere Qualifikationen und Verantwortlichkeiten geben. Sonst besteht die Gefahr, dass autistische Werke entstehen, die losgelöst sind vom Ort, von der Stadtstruktur, von der Zeit.

DER STANDARD: Sozusagen Pfauenfedern ohne Pfau.
Dangschat: Wenn ich nicht weiß, wo die Feder am Vogel sitzt, kann ich nicht beurteilen, ob sie gut ist.

DER STANDARD: Die Architektur ist also doch zur sozialen Verantwortung zu ziehen?
Dangschat: Ja. Man muss aus Architekten keine Soziologen machen, aber sie sollten wenigstens lernen, den Ort zu verstehen und zu analysieren, in den sie intervenieren: Was ist bereits da? Was wird gebraucht? Worauf muss man Rücksicht nehmen? Wenn Meinhard von Gerkan in China, das derzeit gewaltigen gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen ist, auf etwa 600 Baustellen Städte errichtet wie in den 70er-Jahren, baut er seine eigene Vorstellung dessen, wie sich Gesellschaft organisieren soll. Das ist frech, extrem unreflektiert und frei jeglicher gesellschaftlicher Verantwortung. Das sind städtebauliche Strukturen der Vergangenheit.

DER STANDARD: Wie schätzen Sie die Situation in Wien ein?
Dangschat: In Wien haben wir Stadtteile, etwa auf der Platte, wo man versucht, über Hochhäuser mit einer bestimmten Modernitätssprache auf europäischem Niveau mitzuhalten. Wenn man jedoch beispielsweise nach Simmering fährt, sieht man, wie grau und trist Wien an manchen Ecken ist und wie frustriert die Leute dort sind. Für mich stellt zum Beispiel das letzte Wiener Wahlergebnis einen Indikator für die Problematik dar: Man müsste genauer betrachten, wie die Orte auch städtebaulich aussehen, wo sich die blaue Wählerschaft konzentriert. Für mich ist diese Wählerschaft stark von der Erfahrung, zumindest aber von der Befürchtung geprägt, gesellschaftlich abgehängt zu werden. Zu viele glauben, dass wir in Wien noch immer in einer integrierten Gesellschaft leben, in der der Generaldirektor neben seinem Chauffeur wohnt. Doch das stimmt absolut nicht mehr. Wir haben zwar noch gemischte Quartiere, aber mittlerweile auch Gebiete, die einfach vergessen und abgehängt sind. Es gibt schon Gemeindebauviertel, in denen enormer Frust herrscht - diese Landschaft Wiens sollte man sich genauer anschauen.

DER STANDARD: Was heißt das für die Zukunft?
Dangschat: Momentan verändert sich die Gesellschaft rasant, das hat zu tun mit dem Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Viele Menschen kommen da nicht mehr mit. Sie empfinden, es wird alles schlechter, unsicherer, die Familien bröckeln, die Sicherheit am Arbeitsplatz ist nicht mehr da, und die Nachbarn werden auch immer seltsamer. Die Garantien des vorwiegend traditionell-sozialdemokratisch geprägten Milieus bröckeln von allen Seiten. Das macht unsicher. In dem Moment, in dem Bewegung am Wohnungsmarkt einsetzt, verstärkt sich auch in Wien ein raumwirksamer Selektionsprozess. Noch taucht dieses Problem nicht massiv auf, da die Bevölkerungszahlen relativ stabil sind. Doch wenn Wien seine Belegungspolitik nicht kontrolliert, vor allem auch in Bezug auf Neo-Österreicher, handelt die Stadt unverantwortlich, weil sie dazu beiträgt, die latenten Konflikte zu verschärfen.

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