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Heimat als bauliches Konstrukt
Neue Zürcher Zeitung

Eine Monographie zur Heimatstil-Architektur in der Schweiz

Mit der Epoche zwischen Historismus und Moderne hat sich die Architekturhistoriographie lange Zeit schwer getan. Eine Perspektive, die im Internationalen Stil das eigentliche Ziel der Architektur sah, musste zwangsläufig dazu führen, dass die Entwicklungen vor 1920 allenfalls in wegbereitendem Sinne akzeptiert wurden. Selbst Julius Posener, über Jahrzehnte im deutschsprachigen Raum der engagierteste Verfechter einer breiteren Optik, stellte seine Studie über das englische Arts and Crafts Movement und den Deutschen Werkbund (1964) unter den Titel «Anfänge des Funktionalismus».
Probleme der Abgrenzung

24. November 2005 - Hubertus Adam
Wie man die Architektur des beginnenden 20. Jahrhunderts treffend benennen sollte, darüber bestand lange Uneinigkeit. Die Kuratoren einer Ausstellung in Münster 1992 versuchten es noch mit dem Label «Halbzeit der Moderne», doch inzwischen hat sich der passendere Begriff «Reformarchitektur» durchgesetzt. Es handelte sich um eine Architektur, die sich vom Eklektizismus des 19. Jahrhunderts abwandte und die man als Teil einer sämtliche Bereiche des Lebens umfassenden Reformkultur verstehen kann. Das breite Spektrum, das von der Lebensreformbewegung erfasst wurde, ist durch Publikationen und Ausstellungen der letzten Jahre verstärkt ausgeleuchtet worden.

Nun hat die im Bereich der Denkmalpflege tätige Kunsthistorikerin Elisabeth Crettaz-Stürzel eine zweibändige Publikation zum Thema «Heimatstil» vorgelegt, die den Untertitel «Reformarchitektur in der Schweiz 1896-1914» trägt. Auch die Autorin kämpft mit den Begriffen, und sie muss konzedieren, dass ein an regionale Vorbilder sich anlehnender Heimatstil neben dem Jugendstil oder Art nouveau und dem Reduktionsklassizismus nur eine Spielart der Reformarchitektur darstellt. Das eigentliche Problem besteht darin, dass sich die unterschiedlichen Tendenzen vielfach mischten. Das liesse sich etwa am Beispiel des Architekturbüros Curjel & Moser zeigen, dessen reiches, immer noch nicht durch eine fundierte Monographie erschlossenes Œuvre sämtliche möglichen Kombinationen zeigt. Eine weitere grundsätzliche Schwierigkeit ist die Tatsache, dass der «Heimatstil» mit dem Jahr 1914 in der Schweiz nicht etwa verebbte, sondern sich bis in den «Landistil» der dreissiger Jahre halten konnte, wenn nicht darüber hinaus: Heimat wird erst in der Zeit ihrer Bedrohung zum Thema.

Wie problematisch die Eingrenzung des Heimatstils ist, zeigt der zweite Band der Publikation. Crettaz-Stürzeler hatte zuständige Denkmalpfleger und Kunsthistoriker aller Schweizer Kantone gebeten, maximal 20 Bauten des Heimatstils auszuwählen und mit Einleitungsessays zu versehen - Städte wie Bern, Genf, Lausanne und Zürich bekamen separat 20 Objekte zugestanden. Einige Bauten stammen aus den zwanziger Jahren, und viele der übrigen sind unter dem Stichwort «Heimatstil» auch nur bedingt zu erfassen. Ganz abgesehen davon, dass es relativ unsinnig ist, wenn Appenzell Ausserrhoden mit gleich viel Bauten vertreten ist wie die Stadt Zürich. Präzisere Vorgaben der Autorin hätten gut getan - auch hinsichtlich der allzu heterogenen Einleitungstexte.

Tour d'Horizon und Detailanalyse

Gewiss, die städtischen Beispiele sind in den verdienstvollen, von der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte edierten Bänden des Inventars der neueren Schweizer Architektur (INSA) erfasst. Dennoch ist - bei aller Kritik - eine Zusammenstellung wie in den vorliegenden Bänden aufschlussreich, weil sie letztlich das Postulat einer Anknüpfung an heimische Bautraditionen vielfach als Illusion entlarvt. Ründendächer im Kanton Bern oder Schweifgiebel im Glarnerland sind Anspielungen auf lokale Traditionen, doch genauso finden sich Elemente englischer Landhausarchitektur oder Nähen zur finnischen Nationalromantik (sofern man nicht auf seinerzeit rezipierte amerikanische Vorbilder von Richardson oder Sullivan verweisen möchte). Insofern ist der Grundthese der Autorin zuzustimmen, dass es sich beim Heimatstil um ein internationales Phänomen handelt.

Die Verflechtungen und Verbindungen, vor allem mit Deutschland, zeichnet sie im ersten Band nach. Viele der Schweizer Protagonisten - Karl Indermühle, Rittmeyer & Furrer, Nicolaus Hartmann - hatten an den führenden süddeutschen Universitäten studiert, und der Schweizer Heimatschutz, der sich zunächst in den Deutschschweizer Kantonen etablierte, wurde 1905 nach deutschem Vorbild gegründet. Einfluss gewann der Heimatschutz durch Lancierung von Wettbewerben, vor allem aber durch eine breite publizistische Tätigkeit. Auch hier ist auf Vorarbeiten zu verweisen, vor allem auf die einflussreichen Veröffentlichungen von Hermann Muthesius und Paul Schultze-Naumburg. Von eminenter Bedeutung war das an Muthesius' Landhausbücher angelehnte, 1909 erschienene und von Crettaz-Stürzel ausgiebig diskutierte Kompendium «Villas et Maisons de Campagne en Suisse» des Genfer Architekten Henry Baudin.

Die Stärke der vorliegenden zwei Bände besteht in detaillierten Analysen, etwa der publizistischen Strategien, und entschädigt für manche Allgemeinplätze beim Beitrag zur Reformkultur, den die Autorin ihrer Publikation voranstellt. Als empfindliches Defizit fällt überdies auf, dass die Autorin die Schattenseiten des «Heimatstils» geflissentlich ignoriert. Hier wäre vor allem der mit keinem Wort erwähnte Alexander von Senger anzuführen, der mit dem Hauptbahnhof St. Gallen und dem Zürcher Hauptsitz der heutigen Swiss Re am Mythenquai zwei herausragende Werke der Reformarchitektur um 1910 realisierte, sich in den zwanziger Jahren indes - wie sein deutscher Kollege Schultze-Naumburg - mit anhaltenden Tiraden gegen die Moderne zu profilieren suchte und dafür 1936 mit einer Professur in München belohnt wurde. Eine Auseinandersetzung mit von Senger steht hierzulande noch aus.

Grundsätzlich füllt das Werk von Crettaz-Stürzel jedoch eine Lücke in der Architekturhistoriographie. Es kann sensibilisieren für eine erst partiell erforschte Epoche des Umbruchs in der Schweizer Baugeschichte. Bedroht werden die Zeugnisse der Zeit heute nicht mehr durch wissenschaftliche Ignoranz, sondern durch den Druck der Ökonomie.

[ Elisabeth Crettaz-Stürzel: Heimatstil. Reformarchitektur in der Schweiz 1896-1914. Verlag Huber, Frauenfeld 2005. 2 Bände, 348 und 416 S., Fr. 248.-. ]

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