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Südtiroler Delikatessen
Neue Zürcher Zeitung

Dynamische Architekturszene an Etsch und Eisack

Bilder von Schlössern und idyllischen Landschaften prägen unsere Vorstellungen von Südtirol. Dabei wird übersehen, dass sich das südlich angehauchte Bergland zwischen Etsch und Eisack längst zu einer boomenden Wirtschaftsregion entwickelt hat. Diese überrascht heute nicht nur mit Spitzenweinen, sondern auch mit neuer Architektur.

2. Dezember 2005 - Roman Hollenstein
Seit dem Triumph der Tessiner Tendenza entwickelte sich der zentrale Alpenraum zu einer vielgestaltigen Architekturregion, in der - entgegen den baukünstlerischen Globalisierungstendenzen - die Auseinandersetzung mit der Tradition und dem gebauten Kontext eine zentrale Rolle spielt. Seit einigen Jahren macht nun vermehrt auch Südtirol mit interessanten Bauten auf sich aufmerksam. Auffälliger als die Einzelhäuser sind hier jedoch die geschlossenen Dorfbilder und die kaum zersiedelten Grünzonen. Dies ist nicht zuletzt einem weitsichtigen Planungsgesetz zu verdanken, das seit 1972 mittels strenger Leitpläne das Bauen in der Landschaft regelt.

Architektonischer Aufschwung

Mit dieser erstaunlichen «Architektur des Territoriums» konnte die Qualität der Bauwerke zunächst nicht mithalten. Zwar investiert die seit 1919 zu Italien gehörende, heute rund 470 000 Einwohner zählende Provinz Bozen-Südtirol seit Erlangen des Autonomiestatuts im Jahre 1972 nicht nur in die Infrastruktur, sondern auch in öffentliche Bauten. Diese konnten erstmals in einer vom Bozner Architekten Christoph Mayr Fingerle 1993 herausgegebenen Publikation grösseren Kreisen präsentiert werden. Gleichwohl entstehen in den dicht bebauten Dörfern weiterhin Tourismusbauten in einem bizarren Pseudo-Südtiroler-Stil. Doch daneben trifft man immer häufiger auf Gebäude, die mit ihrer oft eigenwilligen Mischung aus lokalem Idiom und internationalem Ausdruck überraschen.

Erste Beispiele dieser engagierten Architektur begegnen einem schon bald, nachdem man bei Müstair die Schweiz in Richtung Meran verlassen hat. In Mals, das mit seinen alten Türmen einen urbanen Akzent ins weite Gebirgstal setzt, steht an der Bahnhofstrasse ein frühes Hauptwerk der neuen Südtiroler Architektur, das 1970 vollendete, burgartig kompakte Gamperheim des Bozner Altmeisters Helmut Maurer. Ihm antwortet am Bahnhof eine präzise Intervention aus jüngster Zeit: die Vergrösserung der alten Lokremise, welche für die Wartung der neuen Zugkompositionen der wiedereröffneten Vinschgau-Bahn nötig wurde. Sie stammt wie auch die meisten neuen Bahnhofsbauten zwischen Mals und Meran von Walter Dietl. In diesen einfachen Kleinbauten ahnt man bereits den Geist der neuen Südtiroler Architektur, die sich immer wieder durch gestalterische Klarheit und den oft experimentierfreudigen Einsatz von Holz, Stein, Metall oder Glas auszeichnet. Das veranschaulichen auf der Weiterreise neben interessanten Einfamilienhäusern und Schulbauten, die ins satte Gewebe der Dörfer eingepasst wurden, auch die neuen Bauernhöfe von Werner Tscholl bei Latsch, von Stefan Hitthaler in Gargazon und von Peter Plattner in Sinich, aber auch Tourismusbauten wie Arnold Gapps Seilbahnstation St. Martin hoch über Latsch.

Kein Ruhmesblatt sind hingegen die meisten Hotelneubauten, die den Touristen ein verkitschtes Bild von Südtirol vorgaukeln. Eine Ausnahme bildet das Hotel Pergola von Matteo Thun. Dem aus Bozen stammenden Mailänder Designer ist bei Algund - in leicht erhöhter Aussichtslage über dem Meraner Talkessel - ein für die ganze Region wichtiger Hotelbau gelungen, der sich mit seinem Sockelgeschoss aus Naturstein und seinen Aufbauten und Laubenkonstruktionen aus Lärchenholz ebenso diskret wie elegant in die von alten «Pergln» geprägten Rebberge einfügt. Weniger erfreulich ist die derzeit der Vollendung entgegengehende, städtebaulich und architektonisch gleichermassen unbefriedigende Thermenanlage in Meran. Der aus einem kubischen Badegebäude, einem abgewinkelten Stadthotel und einer grossen Tiefgarage bestehende Baukomplex basiert auf dem erstplacierten Wettbewerbsentwurf des jungen Berliner Architektenduos Rüdiger Baumann und Julia Zillich. Wegen konzeptioneller Mängel wurde das Projekt anschliessend von Matteo Thun überarbeitet und damit möglicherweise gar noch verschlechtert.

Besser gelungen ist eine andere touristisch wichtige Anlage: die Umwandlung von Schloss Trauttmansdorff in ein Ausflugsziel mit Tourismus-Museum und botanischem Garten. Dazu musste der über dem Meraner Villenviertel Obermais gelegene, 1850 im Geist des romantischen Historismus erneuerte Herrensitz, in welchem sich Kaiserin Sisi 1870 und 1889 aufgehalten hatte, restauriert und umgebaut werden.

Baukünstlerische Attraktionen

Hier konnten 2001 die jungen Südtiroler Kurt Rauch, Rita Pirpamer und Andreas Grasser vom Wiener Architekturbüro Sofa ein leicht dekonstruktivistisch angehauchtes Restaurant, das wie ein gestrandetes Schiff im Vorgarten des Schlosses liegt, und drei Jahre später aufgrund eines Wettbewerbs auch das Besucherzentrum errichten. Mit seinem auf schrägen Mikadostützen aufgestelzten, schachtelförmigen Volumen wirkt dieses wie ein Verschnitt aus Rem Koolhaas' Villa dall'Ava und Mies van der Rohes Barcelona- Pavillon. Doch die fleischrote und doch floral anmutende Granitverkleidung der Eingangsseite gibt ihm eine sinnliche Objekthaftigkeit, die sich gut mit den zarten Gelbtönen des Schlosses und dem üppigen Grün der Vegetation verträgt. Im Innern empfängt der schöne, hufeisenförmig um einen kleinen Bambus-Hof geführte Bau die Besucher mit Raumsequenzen, die auf das verschlungene Wegsystem des über eine Brücke erreichbaren Parks einstimmen.

Das eigentliche Juwel, mit dem das touristische Meran aufwarten kann, ist jedoch das hoch über dem Tal thronende Schloss Tirol. Dieses wurde aufgrund eines 1998 von Walter Angonese und Markus Scherer erarbeiteten Konzepts bis 2003 zum kulturhistorischen Landesmuseum umgebaut. Das Hauptaugenmerk der Architekten galt dabei dem Bergfried, für dessen völlig ausgehöhltes Inneres sie eine abgehängte Konstruktion aus angerostetem Stahl schufen. Das skulpturale Raumobjekt bildet nun ein ideales Gefäss für die Präsentation der Geschichte Südtirols.

Während sich Angonese und Scherer mit der Typologie der mittelalterlichen Burg auseinandersetzten, dachten Abram & Schnabl jene der ineinander verschachtelten Meraner Altstadtbauten weiter. Nachdem sie schon 1992 mit der Transformation der «Pfarrplatzpassage» eine zeittypische Sanierung im Altstadtgefüge vorgenommen hatten, konnten die beiden Bozner Architekten jüngst eine rund 95 Meter tiefe Parzelle zwischen der historischen Laubengasse und der Freiheitsstrasse neu gestalten. Die durch drei Innenhöfe gegliederte «Kurhauspassage» gleicht mit ihren hintereinander gereihten, gemischt genutzten Bauten einer Stadt in der Stadt. Dabei tritt die neue Architektur nur nach innen und an der stilistisch heterogenen Freiheitsstrasse in Erscheinung, wo sie sich mit einer extravaganten Geste auf ein kleines spätklassizistisches Bankhaus abstützt.

Urbanistische Erneuerung

Weniger spielerisch leicht als die «Kurhauspassage» sind die städtebaulichen Interventionen in Bozen. Dort wurde die Piazza del Tribunale, das neben der Piazza della Vittoria wichtigste Platz- Ensemble der faschistischen Neustadt, nach den Plänen von Stanislao Fierro so umgebaut, dass die Pfeilerhalle des monumentalen Gerichtsgebäudes und die heute dem Finanzamt dienende «Casa Littoria» mit dem 40 Meter langen Duce- Relief wieder zur Geltung kommen. Mit Faschismus-Begeisterung hat das nichts zu tun (obwohl es diese in Bozen leider auch noch gibt). Vielmehr soll der Eingriff dazu dienen, eine dunkle Epoche der heute mehrheitlich Italienisch sprechenden Stadt im kritischen Gedächtnis zu behalten.

Neben Monumentalbauten besitzt Bozen auch rationalistische Meisterwerke aus der Mussolini- Zeit, darunter die Badeanstalt «Lido» und das 1936 vollendete ehemalige GIL-Gebäude. Dieses Architekturdenkmal, das mit seinem roten Turmbau einen Akzent jenseits der Drususbrücke setzt, wurde 2002 von Klaus Kada für die Europäische Akademie (Eurac) mit einem diskreten, dunkeltonigen Glasbau zum Brückenkopf ergänzt. Städtebaulich ebenso präzise gingen die Zürcher Architekten Matthias Bischoff und Roberto Azzola vor, die aufgrund eines 1998 ausgeschriebenen Wettbewerbs die Neubauten der Freien Universität Bozen passgenau ins Altstadtgefüge integrierten. Obwohl von vielen Einwohnern als abweisend beanstandet, fügt sich der von spröder Sachlichkeit und kontextuellem Rationalismus zeugende Baukomplex sensibler in die Häuserfluchten ein als etwa Boris Podreccas kulissenartige Passagenarchitektur hinter dem Hotel Greif am Waltherplatz.

Grosses privates Engagement steht hinter einem Bau, der auch im Ausland viel beachtet wird: die von Walter Angonese 2004 vollendete Kellereianlage des in schöner Aussichtslage über dem Kalterersee gelegenen Weinguts Manincor. Die tief in den sanften Hang eingegrabene «Grottenarchitektur» tritt nur an fünf Stellen mit skulpturalen Bauteilen aus dem Rebberg an die Oberfläche. Damit ordnet sie sich ebenso sensibel wie raffiniert der lieblichen Landschaft und dem barocken Herrenhaus unter, ohne auf die Ausdruckskraft von Form und Material zu verzichten. An diesem aussergewöhnlichsten Bauwerk Südtirols waren neben Angonese auch Rainer Köberl und die erst dreissigjährige Meranerin Silvia Boday beteiligt. Derzeit vollendet diese auf einem winzigen Grundstück im benachbarten Tramin ein leicht dekonstruktivistisch verzogenes Giebelhaus aus Beton, das mit seinem übereck gestellten Dachfenster nicht ohne Ironie auf ein Lebkuchenhaus anspielt. Dass das Bozner Unterland heute zu den architektonisch abwechslungsreichsten Gebieten Südtirols zählt, beweist auch die noch im Bau befindliche Erweiterung des Strandbades am Kalterersee durch die jungen Architekten Marie-Therese Harnoncourt und Ernst Fuchs vom jungen Wiener Büro «the nextENTERprise».

Auf der andern Talseite kann die schnell gewachsene Stadt Leifers mit der spektakulären Erweiterung der katholischen Pfarrkirche aufwarten. Der von Thomas Höller und Georg Klotzner aus Meran in Form einer leicht asymmetrischen, bronzefarben schimmernden Pyramide gestaltete Anbau erscheint wie eine Hommage an Richard Serra. Doch die nur auf den ersten Blick modisch- subjektiv erscheinende Bauplastik resultiert aus einer genauen architektonischen und städtebaulichen Analyse des Ortes. Die beiden Architekten suchten nämlich nach einer Form, welche die Fernwirkung des romanischen Kirchturms nicht beeinträchtigte und die Integrität des neugotischen Kirchenschiffes, das heute als Vorraum und Werktagskirche genutzt wird, wahrte. Deshalb rückten sie den mit Buntmetallschindeln geschuppten Annex, dessen leicht durchhängendes Dach im Längsschnitt entfernt an Le Corbusiers Wallfahrtskirche in Ronchamp erinnert, etwas von der bestehenden Kirche nach Norden ab und bildeten die Verbindungsstelle in Glas aus.

Tritt man nun durch das nördliche Seitenportal des alten Gotteshauses in den neuen, mit warmem Ahornholz ausgekleideten Kirchenraum, so befällt einen kurz ein Schwindelgefühl. Denn die Schrägen der leicht nach innen geneigten Stirnfront und der Decke sowie die perspektivische Weitung der Seitenwände erzeugen eine Atmosphäre des Schwebens und des Schwankens, die durch die sakrale Lichtregie des nur von Westen und oben erhellten Altarbereichs noch verstärkt wird. Dieses aufgrund seiner überzeugenden funktionalen, formalen und materiellen Umsetzung zu Recht mit dem 2004 zum dritten Mal vergebenen Südtiroler Architekturpreis geehrte Meisterwerk verleiht der heutigen Südtiroler Architektur zusammen mit der Kellerei von Manincor und der Transformation von Schloss Tirol ein neues, eigenständiges Gesicht.

Ländliche Interventionen

Der katholischen Kirche sind noch andere architektonisch bemerkenswerte Lösungen zu verdanken. Es handelt sich dabei um Friedhofserweiterungen. Wie die ummauerten Grabstätten, die seit alters die Südtiroler Berglandschaft akzentuieren, neu interpretiert und kompakt vergrössert werden können, machte der Meraner Willy Gutweniger schon 1980 mit dem Bergfriedhof von St. Pankraz bei Lana vor. Eine ebenso schöne Lösung haben jüngst Gerhard Mahlknecht und Heinrich Mutschlechner für den Friedhof in Luttach im Ahrntal gefunden. An der Gelenkstelle zwischen der Zugangsrampe, die dem Nordabhang des Kirchhügels entlangführt, und dem westlich des Gotteshauses terrassenartig abfallenden neuen Gräberfeld placierten sie eine Aufbahrungskapelle aus hellem Sichtbeton, welche die Gesamtanlage räumlich klärt. Der durch die Wand der Urnengräber optisch markant verlängerte Bau gewährt dank den übereck geführten, mit grossen Glasflächen und einer Stahltüre versehenen Öffnung einen Einblick in den Andachtsraum und verleiht so dem sonst hermetisch geschlossenen Volumen etwas Japanisches.

Bis hinauf in die entlegensten Bergtäler Südtirols, wo vor Jahren in Sexten der internationale Architekturpreis «Neues Bauen in den Alpen» ins Leben gerufen wurde, trifft man heute auf interessante Neubauten. Sie zeugen von einem baukünstlerischen Aufbruch, der von der Architekturzeitschrift «turrisbabel» dokumentiert und durch den Architekturpreis Südtirol gefördert wird. Die besten Bauwerke entstehen vor allem dort, wo die Architekten durch den urbanistischen, kulturellen oder baulichen Kontext zu einem kreativen Dialog herausgefordert werden. Noch aber ist das baukünstlerische Potenzial längst nicht ausgeschöpft. So liesse sich das Niveau zweifellos weiter steigern, wenn neben der öffentlichen Hand, die dank Wettbewerben immer öfter gute Bauten realisiert, vermehrt private Bauherren als weltoffene Auftraggeber in Erscheinung treten würden. Doch darf man annehmen, dass die bereits entstandenen Vorzeigebauten den Sinn für gute (und auch touristisch wirksame) neue Architektur weiter fördern werden.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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