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Solitär oder im Rudel?
Solitär oder im Rudel?, Foto: rainer pirker ARCHItexture
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In die Vertikale wachsende Knoten im Stadtgeflecht, vielschichtig in Gestalt und Nutzung, die „neue urbane Qualitäten für den angrenzenden Stadtraum schaffen sollen“: Das Innsbrucker Hochhauskonzept versucht die Neuinterpretation eines umstrittenen Bautyps.

13. Juli 2002 - Christian Kühn
Das Hochhaus als amerikanische Steigerungsform des Städtischen hat in Europa nach wie vor einen zweifelhaften Ruf. Es ist eine genuine Erfindung Amerikas, geboren aus der radikalen Ausnutzung neuer technischer Möglichkeiten: Stahlkonstruktion, Aufzug, künstliche Belichtung und Belüftung. Der Unterschied zum europäischen Hochhaus liegt vor allem im Städtebaulichen. Während in Amerika die Agglomeration sehr hoher Häuser über einem rechtwinkeligen Raster zum urbanen Leitbild wurde, tendiert das Hochhaus in der europäischen Stadt zum Solitär. Je nach kultureller Großwetterlage wird es daher als Signal der Modernisierung oder als Bedrohung des historischen Bestands wahrgenommen.

Der Antrieb zur Errichtung von Hochhäusern geht in der Regel von kapitalkräftigen Bauherrn aus, die nach dem simplen Prinzip agieren, auf einem möglichst zentrumsnahen Grundstück eine möglichst große Anzahl identischer Geschoße zu stapeln. Wenn die Stadt kein eigenes Hochhauskonzept vorzuweisen hat, gilt in der Folge eine einfache, in Wien am Stumpfschen Millenniumstower abzulesende Spielregel: Das höchste Hochhaus baut immer der Investor mit den besten Beziehungen.

Die in Wien inzwischen verfolgte Strategie, Sichtkorridore festzulegen, die nicht durch Hochhäuser verstellt werden dürfen, und die Kreuzung möglichst vieler Verkehrsströme zum Hauptkriterium für einen Hochhausstandort zu machen, ist ein defensiver Weg zur Bewältigung des Problems, der auf ein klares Szenario für die zukünftige Entwicklung verzichtet. An diesem Weg ist alles durch und durch vernünftig, und gerade das ist seine Schwäche. Nach einem ähnlich vernünftigen Prinzip hatte schon der letzte Wiener Stadtentwicklungsplan eine Verdichtung entlang von Verkehrsachsen vorgesehen.

Am Ende fand die Entwicklung zwischen den Achsen statt, weil dort die Grundstückspreise niedriger blieben. Um mit den Hochhaus-Investoren, deren Motivation stets aus einer kreativen Mischung von Geldgier und irrationalem Gestaltungswillen besteht, mithalten zu können, muß die Stadtplanung konkretere und zugleich kreativere Regulierungen entwickeln.

In Innsbruck wurde kürzlich ein Hochhauskonzept vorgestellt, das einen Schritt in diese Richtung versucht. Anlaß dafür war die Entwicklung eines Siedlungsleitbildes für den Raum Innsbruck, in dessen Rahmen die Hochhausfrage als besonders heikles Unterthema erkannt und an eine eigene Planungsgruppe ausgelagert wurde. Das Architekturforum Tirol wurde beauftragt, ein EU-weites Bewerbungsverfahren für die Erstellung einer Hochhausstudie zu veranstalten und die ausgewählten Teams in mehreren Workshops unter Einbeziehung der Öffentlichkeit zu koordinieren (www.hoch hausinnsbruck.at). Ausgewählt wurden drei Architektenteams - Pietro Caruso/
rainer pirker ARCHItexture, Hermann Czech/ Rainer Köberl, Jourdan-Müller PAS - und ein Team für Sozial- und Kulturwissenschaften: helix (Hebertshuber, Marchner und Schoibl). Moderation und Konzeption der Workshops lagen bei Max Rieder.

Die Verfasser der Studie stellten sich zwei grundsätzliche Fragen. Erstens: Braucht Innsbruck aufgrund von Wirtschaftsentwicklung oder Baulandverknappung neue Hochhäuser? Zweitens: Können Hochhäuser für einen konkreten Ort besondere Synergien und städtische Vielschichtigkeit erzeugen? Die Antwort auf die erste Frage fällt in der Studie klar negativ aus. Allerdings sehen die Autoren gerade darin eine Chance: „Weil Innsbruck sich einer trivialen Hochhausentwicklung verweigern kann, besteht für anspruchsvolle Qualifikation von speziellen ,Ausnahmen' in dieser Stadt eine besondere Chance.“ Die Kriterien für die anspruchsvolle Qualifikation ergeben sich aus der positiven Antwort der Autoren auf die zweite Frage: Richtig geplant, können Hochhäuser zur städtischen Vielschichtigkeit beitragen.

Die Studie schlägt vor, im Talboden keine neuen konventionellen Hochhäuser zu errichten. Keine neuen deshalb, weil Innsbruck zwar im Vergleich zu anderen österreichischen Städten einen hohen Anteil an Hochhäusern aufweist, die vor allem in den sechziger und siebziger Jahren für Wohnzwecke errichtet wurden. Nur wenige der über 60 Objekte, die baurechtlich über der Hochhausgrenze liegen, sind aber hoch genug, um als „echte“ Hochhäuser wirksam zu werden. Von den umliegenden Bergen aus betrachtet, ist die städtische Baumasse zwar in der Höhe differenziert, aber doch einheitlich geblieben.

Als Standorte für konventionelle Hochhäuser bis zirka 90 Meter Höhe werden vier Zonen ausgewiesen, von denen drei am Rand des Talbodens entlang der Autobahn liegen. Die vierte Zone am Westbahnhof erlaubt wegen der Nähe zum Flughafen nur eine reduzierte Bauhöhe. Die Situierung an der Autobahn wird einerseits mit stadtgestalterischen Argumenten begründet: Nahe an die Gebirgswände gerückt, würden Hochhäuser eine dramatische Erscheinung gewinnen, die sie mitten im Talboden nie erreichen könnten. Andererseits sprechen die gute Verkehrsanbindung, die ausreichende Zentrumsnähe und nicht zuletzt der Werbeeffekt durch die Autobahn für den Standort. Daß diese nicht auf dem Talboden, sondern in der Bergflanke etwa auf der Höhe des sechsten Geschoßes geführt ist, wird aus dieser Perspektive zur Qualität. Das Besondere der Situation ließe auch bei konventioneller Bauweise der Einzelobjekte ein außergewöhnliches Ergebnis erwarten.

Für die innerstädtischen Bereiche (mit Ausnahme von Schutzzonen) schlagen die Autoren einen neuen Typus von Hochhaus vor, den sie als „Urbanissima“ bezeichnen. Es handelt sich dabei um einen in die Vertikale wachsenden Knoten im Stadtgeflecht, vielschichtig in Gestalt und Nutzung, der „neue urbane Qualitäten für den angrenzenden Stadtraum und das Quartier schaffen soll“. Wenn ein Investor sich für ein derartiges Projekt interessiert, sollen die konkrete Höhenentwicklung, der Nutzungsmix sowie die räumliche Zuordnung der öffentlich zugänglichen Flächen in einem verbindlich in den Richtlinien festgelegten „Kontextseminar“, in das auch Anrainer eingebunden sind, festgelegt werden. Die Obergrenze für diesen Gebäudetyp ist mit 60 Meter festgelegt. Im Stadtgebiet verteilt würden sie nicht als vertikale Spitzen, sondern eher als Inseln im Häusermeer erscheinen.

Die „Urbanissima“ ist die Steigerungsform der europäischen Stadt und ihrer Qualitäten. Die Autoren der Studie versprechen sich von ihr „sozialen Mehrwert, Intensivierung und Attraktivierung von Stadtleben und Stadtkultur, Kompensationschancen zum grassierenden Flächenverbrauch und ressourcenbewußte Vertikalität, Schaffung eines dynamischen Elements im Interesse sich wandelnder Bedürfnisse der StadtbewohnerInnen, stadtteil- oder themenbezogene Identitätsbildung“.

Spätestens hier schleicht sich die Frage ein, ob eine derartig geballte Ladung von guten Absichten unter den Bedingungen der kapitalistischen Stadtentwicklung eine Chance hat. Oder etwas pointierter: Fällt die Studie nicht in einen längst überholten, weltbaumeisterlichen Erlösergestus zurück, über den nicht nur die Investoren, sondern auch eine an Rem Koolhaas' antiplanerischer und antipolitischer Haltung geschulte, marktorientierte jüngere Architektengeneration nur milde lächeln?

Vielleicht. Daß die europäische Stadt aber keine andere Chance hat, als sich solch scheinbar naiv-optimistischer Vor- wärtsstrategien zu bedienen, war vor einer Woche bei einem Symposium zu erfahren, das vom Haus der Architektur Graz im Rahmen seines Jahresthemas „europe.cc - changing cities“ veranstaltet wurde.

Walter Siebel, deutscher Stadtsoziologe, sprach dort über die gewandelte Situation der europäischen Stadt, die Auflösung der Begriffe Peripherie und Zentrum und die zunehmende Autonomie des Umlands, das als verstädterte Landschaft nicht mehr auf ein Zentrum angewiesen sei. Pendler- und Besiedlungsströme, die von Umlandgemeinde zu Umlandgemeinde unter Auslassung der Zentren führen, lassen in den Kernstädten vor allem soziale Probleme zurück. Aus Bürgern werden Kunden, die städtische Dienstleistungen in mehreren Gemeinden einkaufen, ohne sich einer öffentlichen Körperschaft verantwortlich zu fühlen.

Wo der Tourismus die Hülle der europäischen Stadt konserviert, droht wiederum einer ihrer essentiellen Bestimmungsgründe verlorenzugehen, nämlich ein kontinuierlich geführtes Geschichtsbuch ihrer Bürger zu sein. Als verbleibende Chance für die Kernstädte sieht Siebel die Schaffung „innovativer Milieus“, die eine Voraussetzung des heutigen Wirtschaftssystems darstellen und von Ökonomen mit denselben Begriffen beschrieben werden, mit denen Stadtsoziologen die Qualitäten der europäischen Stadt darstellen - oder die Autoren der Innsbrucker Studie ihre „Urbanissima“.

Und die Investoren? Beim Grazer Symposium ließ ein Vertreter von McDonald's mit der Bemerkung aufhorchen, daß es ihm in erster Linie um klare, langfristig stabile Vorgaben und weniger Bürokratie gehe. Mit anspruchsvolleren Strukturen habe er kein Problem: In Vorarlberg, wo die Ansprüche an Architektur generell hoch sind, sehe jeder McDonald's eben anders aus. Klug umgesetzt, könnte die Innsbrucker Strategie auch ihre ökonomische Bestätigung finden.

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