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Modellfall Sargfabrik
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Wenig verwunderlich: Experten sind sich kaum darüber einig, wie die Wohnungen der Zukunft aussehen werden.

17. Juli 2002
„Wohnen ist konservativ“, sagt Prof. Ingeborg Flagge, Leiterin des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt. Bei der Wahl ihrer „Höhle“ befriedigten die Menschen auch im 21. Jahrhundert Bedürfnisse aus der Steinzeit wie Rückzug, Abschottung und Schutz der Familie. „Nicht-Bewegung ist die eigentliche Bewegung beim Wohnen“, sagt Flagge.


Mehr Individualität

Viele Architekten und Immobilienmakler sind allerdings gänzlich anderer Ansicht: Sie sehen einen eindeutigen Trend zur Individualisierung. „Das 08/15-Objekt, das für alle passt, ist vorbei“, meint Axel Kloth, Geschäftsführer der Hamburger Maklerfirma Grossmann & Berger. Architekten und Bauträger müssten künftig die jeweilige Zielgruppe möglichst genau bedienen. Ob altersgerechte Wohnungen mit Lift, Stadtwohnungen für „Arbeitsnomaden“ oder Fabrik- Lofts für kreative junge Paare - nur was individuell passt, wird sich künftig für den Investor auszahlen.


Keine Ghettos

Auf der Suche nach neuen Zielgruppen könnten beispielsweise schadstoffarme Häuser für Allergiker entstehen oder Wohnungen für homosexuelle Paare. Wie bitte sieht die aus? „Vielleicht hat sie eine besonders große Küche - oder genau das Gegenteil“, sagt Kloth, „das muss der Investor ja gerade herausfinden“. Kein Zukunftsmodell hingegen scheint das Getto: Wohnburgen für Rentner oder Siedlungen für kinderreiche Familien sind out. „Die Menschen wollen nicht nur unter ihresgleichen sein.“ Betreutes Wohnen am Stadtrand zum Beispiel werde kaum angenommen.


Beispiel Wien

In Wien hat die Zukunft schon begonnen: Eines der innovativsten Wohnprojekte ist die dortige „Miss Sargfabrik“. Auf dem Gelände bauten die Architekten Johann Winter und Franz Sumnitsch 110 im wahrsten Sinne des Wortes „schräge“ Wohnungen. Manche haben schiefe Böden oder Decken, Knicke in den Wänden formen konkave oder konvexe Zimmer. Die Nachfrage war riesig: Beim zweiten Bauabschnitt gab es zehn Mal so viele Interessenten wie Wohnungen.

Zukunftsweisend an der Sargfabrik sind nicht nur die Grundrisse, sondern ist auch das soziale Konzept der Wohnanlage. Im Quadratmeter-Mietpreis von rund 80 Schilling (5,80 Euro) sind Gemeinschafts-Einrichtungen enthalten wie Schwimmbad, Bibliothek, Büroraum oder eine Gemeinschaftsküche zum Feiern. Für Sumnitsch sind solche „teilöffentliche Flächen“ eindeutig ein Trend der Zukunft - ebenso wie die Einbeziehung der künftigen Bewohner: In der Sargfabrik konnten künftige Mieter die Wohnung nach ihren Wünschen mitgestalten.


Soft- statt Hardware

Wenn es tatsächlich einen Trend zur Individualisierung gibt, entgegnet Museums-Direktorin Flagge, dann äußere er sich nicht im Grundriss, sondern in der Inneneinrichtung. Zukunftsmodelle wie das umweltfreundliche Energiesparhaus, das technisch hoch gerüstete Intelligente Haus oder das Mitwachsende Haus mit flexiblen Innenwänden - für Flagge sind das alles fromme Wünsche von Architekten, die an den Bedürfnissen der Menschen vorbei gehen: „Ein Niedrigenergiehaus kostet so viel, dass ein Menschenleben nicht ausreicht, um es abzustottern.“


Kaufen oder Mieten?

Wer sich wofür entscheidet, hat viel mit Psychologie zu tun, glaubt Peter-Georg Wagner, Leiter der Marktforschung beim Ring Deutscher Makler (RDM). Die innere Einstellung sei viel wichtiger als günstige Zinsen oder moderate Preise. Zurzeit hätten viele Menschen Angst um ihren Arbeitsplatz und schreckten davor zurück, sich dauerhaft für Wohneigentum zu verschulden. „So lange die Erwartung in die Zukunft nicht positiv ist, zahlen die Menschen lieber Miete.“


Urban Sprawl

Mit langfristigen Zukunftsprognosen hält sich der RDM zurück. Mittelfristig sieht Wagner aber weiterhin einen Trend zum Stadtrand. Das Einfamilienhaus im Grünen wird - da geht er mit Flagge konform - auch in Zukunft der Traum junger Familien sein. Die Nachfrage nach dem preisgünstigen eigenen Häuschen sei seit langem „sehr stabil“.

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