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Wo es sich brüstet
Der Standard

Was verbindet Julia Capulet, Hans-Dietrich Genscher und Benedikt XVI.? Sie alle standen auf einem Balkon, als sie etwas Wichtiges zu sagen hatten. Der Balkon: unersetzlich in der Historie genauso wie zu Silvester. Rechtzeitig zum Jahreswechsel also eine Ode an Balkonien

31. Dezember 2005 - Wojciech Czaja
Luxusgut, Freiheitstraum und Immobilienhit: Die Rede ist vom Balkon, von jenem Gebäude-Anhängsel, das jeder haben muss, obwohl es niemand braucht. Doch wer denkt da nicht träumerisch an Romeo und Julia, an dieses kitschtriefende Bild, in dem lediglich ein winziger Balkon (und eine rabiate Sippschaft im Nacken) den Kavalier von seiner Dame trennt? Wer denkt da nicht - wem Verona zu weit erscheint - an Ulrich Seidls zutiefst wienerische Hundstage, an denen Mann und Frau teintbegierig in der Sonne brutzeln? Dann einmal ein bisschen Kräuter rupfen, Balkon-Frühstück servieren, spätabendlich schließlich Gelsenschwärme in toxische Wölkchen einsprühen.

Doch kaum ist der Sommer in weiter Ferne, was Ende Dezember zweifelsohne der Fall ist, scheint das einst noch pelargoniengesättigte Blumenbild wie weggewischt. Stattdessen reiht sich ein Outdoor-Abstellraum an den anderen, prall gefüllt mit Sommerreifen, gestapelten Gartenstühlen und feinstaubverhüllten Holzrodeln, die schon dem ersten Schneefall entgegeneifern. Ein architektonischer Nichtsnutz also? Ein Trugbild unserer sommerfrischen Sehnsüchte in einem Land, in dem die kühle Brise der Herr des Wetters ist?

Aber nichts davon, ganz im Gegenteil erweist ein kleiner Rückblick in die Geschichte, wie entscheidend der so bezeichnete „offene Austritt an Gebäudeobergschoßen“ schon immer gewesen ist. Man kann es nicht ändern, die Definition in Reclams Kleinem Wörterbuch der Architektur ist von der Sinnlichkeit des Shakespeare-Dramas nun einmal meilenweit entfernt. Wichtiger Nachsatz: „Meist auf Deckenvorkragungen mit Brüstungsabschluss nach außen.“

Genau diesem Phänomen schließlich verdankt der Balkon sein historisches Erbe, ist er doch irgendwo zwischen dem Drinnen und dem Draußen an das Haus geheftet. „Vielleicht ein Ort des Heraustretens aus sich, aber nicht, um sich von seinem seelischen Selbst zu verabschieden“, schreibt Christoph Leitgeb in einem Essay, „sondern um in der Distanz zum Zeichen zu werden für das Ganze des Gebäudes.“

Gleich zwei Mal hat der Balkon heuer als jener rühmliche Ort fungiert, der offen genug ist, um sich dem Publikum zu präsentieren, der andererseits aber auch wieder durchaus verschlossen auftritt, indem er die repräsentative Kulisse des jeweiligen Bauwerks hinter sich hat. Es war der Balkon am Petersdom, wo Joseph Ratzinger am 19. April 2005 zum ersten Mal Benedikt XVI. war. Feierlich drapiert, im Hintergrund die Staffage des geistlichen Weltzentrums, in der Nähe der Sixtinischen Kapelle, aus der kleinweise weißer Rauch herauspuffte.

In Österreich indes hat man des Staatsvertrags gedacht. Rechtzeitig zum Gedankenjahr 2005 sind einige Plastikduplikate des Belvedere-Balkons auf Österreich-Tournee gefahren, genau genommen eines pro Bundesland. Von einem Autokran in die Höh' gehievt, konnte der streng gedenkende Österreicher den Platz des ehemaligen Außenministers Leopold Figl einnehmen und bei Belieben aus tiefster Inbrunst „Österreich ist frei!“ herausschreien. Heute steht der in der Zwischenzeit ausgediente und ausrangierte Beitrag der „25 Peaces“ in mehrfacher Ausfertigung auf dem Gelände des Schlachthofs St. Marx. Ein zwittriges Objekt vor einem feinen Restaurant, unwissend, ob es nun als Werbeträger oder schlichtweg als Kultursondermüll sein Dasein fristen wird.

Was hat man nicht schon alles geboten bekommen auf Balkons! Romy Schneider vergnügte sich im ersten Teil der Sissi-Trilogie (Österreich 1955, Regie Ernst Marischka) mit Karlheinz Böhm in der Rolle von Kaiser Franz Joseph auf dem - wie könnte es anders sein - Balkon. Das frisch vermählte Brautpaar Lady Diana Spencer und Prince Charles boten im Juli 1981 den jubelnden Schaulustigen einen Kuss auf dem Balkon des Buckingham Palace, der fürwahr in die Geschichte des Schmusens einging.

Anders in Spanien anno 2004: andere Zeiten, andere Länder, andere Sitten. Das spanische Brautpaar Letizia und Felipe spannte die neugierige Schar vor der Fassade des Palacio Real auf die Folter, zum heiß ersehnten Kuss auf dem Hoffnungsträger Balkon kam es nicht, Felipe gab seiner Frau lediglich ein Küsschen auf die Wange.

Doch abgesehen von Lippenspielen und Glamour bleiben auch andere Balkonszenen unvergesslich, die etwas mehr Einfluss auf den Lauf der Geschichte haben sollten. Wie wären beispielsweise die Recherchen rund um den Watergate-Skandal weiterverlaufen, hätten Mark Felt und Bob Woodward nicht den Balkon als subtiles Kommunikationsmedium verwenden können? Ein kleiner Blumentopf auf dem Balkon, darin ein rotes Tuch. Allein die jeweilige Position des Blumentopfes gab dem Informanten „Deep Throat“ Aufschluss über die Dringlichkeit eines geheimen Treffens. „Wie er täglich meinen Balkon überwachen konnte, ist für mich noch immer ein Rätsel“, erklärt Woodward in seinen Erinnerungen an den Watergate-Skandal, „mein Balkon hätte von dutzenden Wohnungen und Büros aus gesehen werden können, soweit ich das beurteilen kann.“

Wann etwa würde die Berliner Mauer unter der politischen Last nachgegeben haben, hätte der Lauf der Geschichte auf die historische Prager Balkonszene am 30. September 1989 verzichten müssen? „Liebe Landsleute“, leitete Außenminister Hans-Dietrich Genscher damals seine Rede ein, „wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland möglich geworden ist.“

Staatsverträge und vereinigende Geschichtsschreiberei auf der einen Seite, Prominente, Royals und regelmäßig der Öffentlichkeit präsentierte Neugeborene als Zeugen blaublütigen Familienglücks auf der anderen Seite. Da stelle noch jemand die Wichtigkeit des architektonischen Attributs namens Balkon in Frage! Unter diesem historischen und gesellschaftlichen Gesichtspunkt stellt der Balkon seine baulichen Vettern Loggia und Terrasse gehörig in den Schatten, wenngleich der Balkon - im österreichischen Wohnbau zumindest - der einzige der drei Freiräume ist, der nicht der Wohnnutzfläche zugeschlagen wird. Minderwertig und minderbemittelt, a priori dazu verdonnert, allwinterlich als jämmerliches Gerätschaftsdepot missbraucht zu werden? Da scheint es nicht weit hergeholt, wenn diesen Balkon das gleiche Schicksal ereilt, wie es um jenes bauliche Beiwerk in Thomas Bernhards Stück Elisabeth II. (1984) bestellt war, als die steinerne Platte unter der Last der allzu großen Menschenschar nachgab und in die Tiefe stürzte.

Ein Balkon ist eben mehr als nur ein simpler Freiraum, der der Wohnung sozusagen gratis und nutzflächenindifferent zugeschlagen wird. Ein Balkon ist vielmehr ein städtisches und historisch gefestigtes Symbol, das wie der Bug der Titanic aus dem Haus herausragt und Loge wie Bühne in sich vereint. Zurückgezogener Schauplatz der stillen und heimlichen Voyeure zwar, doch im gleichen Atemzug auch schamlose Plattform von publicitysüchtigen Exhibitionisten. Und mehr noch gilt der Balkon als hochkulturelles Objekt der Begierde in Kunst und Politik, während er uns auch Ruhe und Entspannung beschert.

Genug der verwirrenden Theorie. Am Ende eines Jahres voller Päpste und Möchtegern-Figls zwischen Rom und der Provinz ist nun endlich Spaß angesagt. Ein Balkon zu Silvester - das mag sich als durchwegs praktisch erweisen angesichts so mancher Raketen- und Feuerwerkslaune, die dieser Tage unter uns grassiert. Gilt doch der Jahreswechsel als wahrscheinlich einziger Zeitpunkt im klirrend kalten Winter, zu dem das oftmals begehrte Sommerrefugium zur Abwechslung einmal einem bombastischen Nutzen näher gebracht wird. Auf dass es zische und knalle!

Gar so leicht ist das Zielen in den Himmel dann allerdings auch wieder nicht. Kaum hat man sich's versehen, kann es einem schon so gehen wie einst dem echten Wiener Edmund Sackbauer, dessen Feuerwerksversuch den Himmel gar nicht erst erreichte und stattdessen ein Fenster im Haus vis-à-vis zum Bersten brachte: „Die is danebengangen.“ Doch Mundl hatte ja auch keinen Balkon.

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