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Verdichtung und Gated Communities
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Das ungebremste Wachstum der Städte und der damit verbundene Ressourcenverschleiß ist - seit Jahren - die wichtigste Herausforderung an die Stadtplanung.

17. Juli 2002
„Mit einer Wohnung kann man einen Menschen erschlagen wie mit einer Axt“, schrieb einst Heinrich Zille über die Wohnungslage in Berlin. Für den Milieu-Künstler waren die Mietskasernen der preußischen Metropole Ende des 19. Jahrhunderts mit ihren muffigen Innenhöfen, dem Klo im Treppenhaus und den ewig feuchten Wänden eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Ihre Bewohner sollten gegen die tägliche Verletzung ihr Würde rebellieren. Zwar haben sich im vergangenen Jahrhundert die Lebensverhältnisse in den Städten Europas deutlich gebessert. Doch für die Slumbewohner in den Entwicklungsländern sind heute selbst Wohnungen, wie sie Zille mit bitterer Ironie beschrieb, ein unerreichbarer Traum.


Urbane Verelendung

Ob in Manila, Sao Paulo oder Lagos - in den Riesenstädten der Dritten Welt fristen noch immer Millionen Menschen ihr Leben zwischen Wellblechdächern und Pappwänden, an stinkenden Abwasserkanälen, meterhohen Müllkippen und mit den bleihaltigen Abgasen aus Fabrikschloten und Auspuffrohren in der Lunge. Fast ein Drittel der Stadtbewohner in Afrika, Asien und Lateinamerika leben nach einem UN- Bericht unter der Armutsgrenze - Tendenz steigend. An den meisten Bürgern, so heißt es auch in dem Aufruf zum 21. Weltkongress der Architekten, der an diesem Montag (22. Juli) in Berlin beginnt, gehen die Segnungen des modernen Stadtlebens vorbei. Unter dem Motto „Ressource Architektur“ werden im Rahmen des Architektur-Weltkongresses vor allem Fragen der Verschwendung von Energie und Baustoff diskutiert werden.

Die Fachleute vom Bau, so heißt es im Vorfeld des Kongresses, müssten ihre Kenntnisse endlich zur Lösung der drängenden Probleme in den Metropolen einsetzen. Es müsse Schluss sein mit der gefräßigen Ausbreitung der Städte, der Zersiedelung der Landschaft, dem gesichtslosen Ausbau der Stadtzentren. „Wir können nicht so weiter machen“, sagt Kongresspräsident Andreas Gottlieb Hempel.


Diskussionsfeld Potsdamer Platz

Als Beispiel für das Wohnen der Zukunft haben Berlins Bauplaner immer wieder das neue Areal rund um den einstigen Potsdamer Platz gelobt. Für den Riesenkomplex am früheren Verkehrsknotenpunkt entwarf der Italiener Renzo Piano das Modell einer „europäischen Stadt“ und gewann für die einzelnen Bauten Stararchitekten wie den Deutschen Hans Kollhoff und den Amerikaner Helmut Jahn.

Mit Wohn- und Bürotürmen, Multiplex-Kinos, Luxus-Hotels, Einkaufszentren und überdachten Flaniermeilen sollen sich Alltag, Arbeit und Vergnügen durchmischen. Auch der Wiederaufbau der Berliner Mitte rund um die Friedrichstraße und das Regierungsviertel mit den Original-Traufhöhen und den alt anmutenden Steinfassaden wurde als Heilung der von Krieg und Teilung geschlagenen Wunden und Wiederherstellung eines geschlossenen Stadtbildes gefördert.


Soziologische Kritik

Viele Experten sehen in Berlins „kritischer Rekonstruktion“ allerdings einen Etikettenschwindel - ähnlich jener „Celebration City“, die der Disney-Konzern als Abbild der amerikanischen Kleinstadt zurzeit für 20.000 Bewohner in Florida baut. Mit dieser Kulissenarchitektur, so schrieb jüngst der Architektursoziologe Walter Siebel (Universität Oldenburg) in der Deutschen Bauzeitung, ließen sich zwar Touristen anlocken - die Flucht der Familien mit hoher Kaufkraft in den Speckgürtel werde damit aber nicht gestoppt. Die Stadtzentren blieben zwar vor allem für gesellschaftliche Minderheiten attraktiv. Dies gehe aber mit einer Verschärfung der sozialen Gegensätze einher.

Auch die in vielen Metropolen propagierte Verdichtung des Stadtbildes mit enger Bebauung, Straßencafes und kleinen Läden ist für Siebel eine „rückwärts gewandte Utopie“. Bereits heute entfielen in Deutschland nur 40 Prozent der Verkaufsflächen auf die Innenstädte - Umsatz werde vor allem in der Peripherie gemacht.


Privatisierte Öffentlichkeit

Als wichtigsten Trend sehen Experten die geschlossenen Siedlungen mit einer von den Stadtkernen unabhängigen Infrastruktur. In den USA ist der Bau so genannter Gated Communities mit eigener Verwaltung und Privatpolizei das am schnellsten wachsende Segment auf dem Immobilienmarkt. Auch der Potsdamer Platz ist mit einem privaten Sicherheitsdienst und einer strengen „Hausordnung“ rechtlich längst kein öffentlicher Raum mehr.

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