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Wenn das Leben Kunst wird
Neue Zürcher Zeitung

Neue Museen und Erkenntnisse zur Arts-and-Crafts-Bewegung in Grossbritannien

Seit kurzem sind einige Inkunabeln der britischen Reformkultur für die Öffentlichkeit zugänglich. Zugleich erweitern neue Forschungsergebnisse das Bild des Arts & Crafts Movement.

20. Januar 2006 - Hubertus Adam
Die Arts-and-Crafts-Bewegung ist einer der wichtigsten Beiträge Grossbritanniens zur Kultur der Moderne. Ihren Namen erhielt sie durch die 1887 in London gegründete Arts and Crafts Exhibitions Society. Doch die Ideen reichen weiter zurück - John Ruskin und William Morris waren die eigentlichen Protagonisten. Als Pionierbau der Arts-and-Crafts-Architektur gilt das «Red House», das William Morris sich 1859/60 in Bexleyheath bei London errichten liess. Am Rande der Kapitale entstand inmitten von Obstgärten ein schlichter, aber vielgliedriger Ziegelbau. Der Entwurf stammte vom Architekten Philip Webb, den Morris 1856 im Oxforder Büro des Neugotikers George Edmund Street kennen gelernt hatte. Die Bedeutung des «Red House» resultiert nicht nur aus dessen Architektur, sondern auch aus der Innenausstattung, die sukzessive als Gemeinschaftsarbeit von Morris und seinem präraffaelitischen Umfeld entstand.

Wiedererweckung des Mittelalters

An den Wochenenden luden Morris und seine Frau Jane eine Reihe befreundeter Künstler ein, die gemeinsam an der Ausstattung des Hauses arbeiteten: Edward und Georgiana Burne-Jones, Dante Gabriel Rossetti sowie dessen Frau Elizabeth Siddal und Philip Webb. Es entstand ein Ambiente, das durch künstlerische Originalität ebenso geprägt ist wie durch Anklänge an mittelalterliche Kunst - Morris verehrte Chaucer und imaginierte sein Anwesen am Pilgerweg nach Canterbury. 1865 wurde das Red House mit Verlust veräussert.

Nach mehreren Besitzerwechseln gelangte es nach dem Zweiten Weltkrieg in den Besitz des Architekten Ted Hollombay, dessen Erben es 2003 dem National Trust verkauften, der nun Führungen veranstaltet. Spezialisten des Victoria & Albert Museum haben damit begonnen, übermalte Wandpartien freizulegen. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Dekorationen wesentlich umfänglicher waren als bisher angenommen; auch die Zuweisung der einzelnen Arbeiten an die beteiligten Künstlerinnen und Künstler bedarf der Revision.

Mit der umfassenden Monographie der Kunsthistorikerin Sheila Kirk hat Philip Webb (1831-1915) nun auch die überfällige wissenschaftliche Würdigung erhalten. Auch wenn Kirk den Schwerpunkt auf die Architektur legt, gilt ihr Interesse doch auch den anderen Betätigungsfeldern Webbs: so seinen Möbeln, seiner Funktion als Mitbegründer der «Society for the Protection of Ancient Buildings» und seinem politischen Engagement für die Ziele der Sozialisten. Die Höhepunkte des architektonischen Werks stellen neun grosse Landhäuser dar, von denen nur drei gut erhalten sind - darunter Standen (1891) in West Sussex, das sich seit längerem im Besitz des National Trust befindet. Mit subtilen Anleihen bei historischer britischer Architektur sowie mit den Postulaten von Handwerklichkeit, Einfachheit und Bezug zum Ort beeinflusste Webb Architekten wie William Lethaby und Edward Prior, Baillie Scott und Charles Voysey, Edwin Lutyens und Charles Rennie Mackintosh.

Mackay Hugh Baillie Scott (1865-1945) wurde früh auch ausserhalb Englands bekannt: 1897 erteilte ihm der hessische Grossherzog Ernst Ludwig den Auftrag, einige Räume im Darmstädter Schloss zu gestalten; und mit dem 1907-1911 realisierten Landhaus Waldbühl bei Uzwil (SG) befindet sich das besterhaltene Bauwerk des Architekten in der Schweiz. Als eines der ersten Projekte von Baillie Scott gilt Blackwell in Bowness-on-Windermere in Cumbria, das zwischen 1898 und 1900 entstand. Der Lake District im Nordwesten Englands avancierte im ausgehenden 19. Jahrhundert zur beliebten Feriendestination.

Blackwell wurde als Ferienwohnsitz des aus Manchester stammenden Brauereibesitzers Edward Holt konzipiert, diente später als Schule und konnte durch den rührigen Lakeland Arts Trust 1999 erworben und damit vor weiteren drohenden Entstellungen bewahrt werden. Mehr als vier Jahre dauerten die von dem Londoner Architekturbüro Allies and Morrison durchgeführten Restaurierungsarbeiten, nun steht Blackwell als einziges Gebäude von Baillie Scott interessierten Besuchern als Museum offen. Von späteren Verbauungen befreit, ist das einstige Interieur mustergültig freigelegt und - wo nötig - ergänzt worden. Wieder zum Vorschein gekommen sind unter anderem von dem bedeutenden Arts-and- Crafts-Keramiker William Morgan entworfene Fliesenarbeiten. Mit seiner grossen und doch wohnlichen Halle, den vielen kleinen Nischen und Erkern, die ein grandioses Panorama über den Lake Windermere bieten, und dem passenden Mobiliar vermittelt Blackwell einen hervorragenden Eindruck von der Raumkunst der Arts- and-Crafts-Bewegung.

Mackintosh und Mockintosh

Der Wandel, dem die Bewertung der Arts-and- Crafts-Bewegung unterlag, zeigt sich vielleicht am deutlichsten in Glasgow. Charles Rennie Mackintosh, welcher die schottische Industriemetropole zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit seinen Bauten und Interieurs bereicherte, gilt heute, ähnlich wie Gaudí in Barcelona, als touristische Attraktion ersten Ranges. Das war nicht immer so: Nachdem Mackintosh Glasgow 1914 verlassen hatte, fiel er recht bald der Vergessenheit anheim. Das wachsende Interesse der Forschung stiess vor Ort auf wenig Widerhall: 1963 liess die Universität Mackintoshs Wohnhaus abreissen. Immerhin, das Interieur wurde gerettet und 1981 in den Neubau der Hunterian Art Gallery integriert.

Etwa seit dieser Zeit begann die Wiederentdeckung Mackintoshs, deren positive Folge der Erhalt der bestehenden Bauten und deren negative Konsequenz die hemmungslose Vermarktung von «Mockintosh» ist. Die befremdlichste Blüte des Mackintosh-Kults stellt das 2001 im Bellahouston Park eröffnete «Haus eines Kunstfreunds» dar - die Realisierung eines Entwurfs, den der Architekt hundert Jahre zuvor für einen vom Darmstädter Verleger Alexander Koch ausgelobten Wettbewerb eingereicht hatte. Sinnvoller wäre es gewesen, endlich einen geeigneten Aufstellungsort für das Interieur der Ingram Street Tea Rooms zu schaffen. Zwischen 1896 und 1917 hatte Catherine Cranston, die Betreiberin alkoholfreier Gaststätten, Mackintosh mit verschiedenen Projekten betraut.

Von den vier Tea Rooms sind nur noch die Willow Tea Rooms in der Sauchiehall Street am Ort erhalten. Das Interieur der 1901 entworfenen und 1911 zum Teil überarbeiteten Ingram Tea Rooms ist seit dem Abriss des Gebäudes 1971 eingelagert. Anlässlich der grossen Glasgower Mackintosh-Ausstellung konnte einer der Räume, der Ladies Luncheon Room, restauriert werden. Inzwischen sind die Konservierungsarbeiten vorangeschritten. Wann die Restaurierung abgeschlossen sein wird und wo die Ingram Street Tea Rooms dauerhaft öffentlich präsentiert werden können, bleibt indes ungewiss.

[ Sheila Kirk: Philip Webb. Pioneer of Arts & Crafts Architecture. Wiley-Academy, Chichester 2005. 336 S., £ 29.95. - Glasgow's hidden Treasure. Charles Rennie Mackintosh's Ingram Street Tea Rooms. Glasgow Museums 2005. 48 S., £ 5.95. - Blackwell. The Arts & Crafts House. Lakeland Arts Trust 2005. 48 S., £ 5.-. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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