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Weisse Stadt am Mittelmeer
Neue Zürcher Zeitung

Die moderne Architektur von Tel Aviv in einer Schau in Mendrisio

Auf einem vom schottischen Städteplaner Patrick Geddes entworfenen Strassenraster realisierten Architekten aus halb Europa in den dreissiger Jahren die Weisse Stadt von Tel Aviv. Ihr widmet nun die Galerie der Architekturakademie Mendrisio eine sehenswerte Ausstellung.

24. Februar 2006 - Roman Hollenstein
Keine andere Stadt der Moderne besitzt so viel Ausstrahlung wie Tel Aviv. Der Grund dafür liegt in der mediterranen Lebenslust ihrer Bewohner, aber auch in ihrer urbanistischen Anlage. Der ondulierende Linienfluss von schattigen Boulevards, pulsierenden Verbindungs- und ruhigen Quartierstrassen bildet ein organisches Muster, in welchem flachgedeckte Mehrfamilienhäuser wie ungezählte Zuckerwürfel aneinander gereiht sind. Nichts erinnert hier an die harten, rationalistischen Stadtmaschinen des Neuen Bauens. Vielmehr handelt es sich bei der 1925 vom schottischen Urbanisten Patrick Geddes entworfenen Gartenstadt um die einfühlsame Weiterführung einer 1908 in den Dünen nördlich von Jaffa erfolgten Neugründung, die bald schon den Namen Tel Aviv erhielt. Anfangs wurde Geddes' Strassenmuster mit Häusern in eklektizistischem oder orientalistischem Stil bebaut. Zu diesen gesellten sich dann seit den frühen dreissiger Jahren all jene modernen Bauten, die Tel Aviv bald schon zur Weissen Stadt machen sollten.
Internationaler Stil

Diese neue Architektur wurde von europäischen Immigranten konzipiert, die in Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich und der Schweiz studiert hatten. Im Jahre 1937 zählte man bereits 2600 moderne Bauten, und bis zur Staatsgründung von 1948 entstanden nochmals über 1000 Häuser. Sie werden in Tel Aviv meist mit dem Bauhaus in Verbindung gebracht. Doch abgesehen vom wegweisenden Arieh Sharon, der sich bei seinen Arbeitersiedlungen an die sozialen Ideale des Basler Bauhaus-Direktors Hannes Meyer hielt, waren Tel Avivs Architekten weit stärker von Le Corbusier, Mallet-Stevens oder Erich Mendelsohn beeinflusst. Deshalb werden ihre meist viergeschossigen, oft durch abgerundete Ecken, geschwungene Balkone, pergolabekrönte Dachterrassen oder Pfeilerhallen geprägten Mehrfamilienhäuser inzwischen lieber dem Internationalen Stil zugeordnet.

Diese nur summarisch skizzierte Ausgangslage fasst eine Schau zusammen, die anlässlich der im Sommer 2003 erfolgten Aufnahme der «Weissen Stadt» ins Unesco-Weltkulturerbe erstmals in Tel Aviv zu sehen war und nun - als Europapremiere - in der neuen, vor wenigen Monaten eingeweihten Galerie der Architekturakademie von Mendrisio im Palazzo Canavée gezeigt wird. Die mit Plänen, Fotos, Modellen und Videopräsentationen konventionell gestaltete, bei aller Knappheit aber gut fokussierte Schau empfängt die Besucher mit vier Flugaufnahmen, die Zoltan Kluger zwischen 1937 und 1939 von der schon weitgehend gebauten Stadt machte. Anschliessend blickt die Präsentation zurück und beleuchtet die durch die Einwanderungsschübe aus Osteuropa ausgelöste rasante Stadtentwicklung, die gezielte Planungsarbeiten immer dringlicher machte. Auf die Geschichte des Geddes-Plans folgt eine Bildergalerie, die 98 Architekten mit kurzen Lebensläufen vorstellt, darunter die Le- Corbusier-Schüler Zeev Rechter und Sam Barkai, der Bauhäusler Sharon, die 1934 mit der Planung des zentralen Dizengoff-Platzes betraute Genia Averbouch und der am Technikum Winterthur ausgebildete Zürcher Salomon Liaskowsky. Sie zählten zu den einflussreichsten Baukünstlern der Stadt und waren nicht nur planend, sondern - zumal die Mitglieder der Architektenvereinigung «Chug» - auch theoretisierend tätig. Vom fruchtbaren Architekturklima Tel Avivs in den dreissiger Jahren zeugen auch Auszüge aus drei Nummern der Zeitschrift «Architecture d'aujourd'hui» von 1937 und 1939. Diese brachten neben planerischen Innovationen im britischen Mandatsgebiet Palästina auch Meisterwerke der neuen Architektur wie Barkais Juwel, das Haus Lubin in Tel Binjamin (1937), einem grösseren europäischen Publikum näher.

Einige dieser wichtigen Bauten werden in der Schau besonders hervorgehoben - etwa das 1931 vollendete Kruskal-Haus von Richard Kauffmann, der erste bedeutende moderne Bau in Tel Aviv, das aufgestelzte Engel-Haus von Rechter, das Rubinsky-Haus mit dem dynamischen Fassadenspiel von Lucian Korngold oder das durch seine geschwungene Dachkrone einflussreiche Poliashuk-Haus von Liaskowsky. Damit wagt die Ausstellung jene baukünstlerische Wertung, die im ebenso opulenten wie materialreichen Katalog - einer Überarbeitung des Buchs «Batim min hachol» («Häuser auf Sand») von 1994 - fehlt. Hier geht die Herausgeberin und Ausstellungsgestalterin Nitza Metzger-Szmuk auf die Entstehungsgeschichte, die Stadtplanung von Kauffmann und Geddes, die Herkunft und Ausbildung der Architekten sowie auf die Bautypologien ein, vermeidet aber eine kritische Analyse der theoretischen, ästhetischen und funktionalen Aspekte einzelner Häuser. Nicht einmal die Bedeutung des verwahrlosten, aber im internationalen Vergleich erstrangigen Engel-Hauses am Rothschild Boulevard, mit dem Rechter die anschliessend so erfolgreiche Pilotis-Bauweise gegen die Weisungen der Stadtverwaltung durchsetzte, kommt im Katalog ausführlich zur Sprache.
Standardwerk mit Mängeln

Auch gegenüber denkmalpflegerischen Sachverhalten geben sich Ausstellung und Katalog zugeknöpft. Dabei sind viele Häuser nicht nur vom Verfall, sondern ebenso durch Aufstockungen bedroht. Diese verunstalten die Bauten und beeinträchtigen zudem die harmonisch proportionierten Strassenräume. Aber das wäre wohl Stoff für eine weitere Schau und eine Folgepublikation. Deshalb wird man den vorliegenden Katalog trotz manchen Mängeln doch als Standardwerk bezeichnen. Gleichwohl darf man erfreut zur Kenntnis nehmen, dass sich die Ausstellung dem Begleitbuch gegenüber immer wieder eigene Positionen erlaubt - etwa durch den Verweis auf internationale Vorbilder oder auf Fragen der Innenraumgestaltung. Damit wird aber auch deutlich, wie viel Forschungs- und Interpretationsarbeit hier noch geleistet werden kann und muss.

[ Bis 23. März, jeweils von Mittwoch bis Sonntag (12-19 Uhr) im Akademiegebäude am Viale Canavée, anschliessend in der ETH Lausanne. Katalog: Des maisons sur le sable. Tel Aviv. Mouvement moderne et esprit Bauhaus - Modern Movement and Bauhaus Ideals (franz./engl.). Hrsg. Nitza Metzger-Szmuk. Editions de l'éclat, Paris 2004. 447 S., Fr. 100.- (in der Ausstellung). ]

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