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Sehnsucht nach Schönheit
Neue Zürcher Zeitung

Neue Tessiner Architektur - eine Ausstellung in Rom

Gut dreissig Jahre sind vergangen, seit die Zürcher «Tendenzen»-Schau dem erstaunten Publikum von einer Architektur des Aufbegehrens in der italienischsprachigen Schweiz berichtete. Nun wirft eine Ausstellung in Rom einen kritischen Blick auf die Tessiner Baukunst von heute. Vorgestellt werden Gebäude und Projekte von sechs Teams und Einzelkämpfern.

3. März 2006 - Roman Hollenstein
Leicht könnte man die Ausstellung «Architetture di Passaggio» im Istituto Svizzero in Rom als eine von vielen Veranstaltungen zur Tessiner Baukunst seit der legendären Zürcher «Tendenzen»- Schau von 1975 übergehen. Doch anders als ihre Vorgängerinnen skizziert sie nicht die Erfolgsgeschichte der einstigen Kämpfer Botta, Galfetti, Snozzi und Vacchini - allenfalls garniert mit weiteren Namen. Vielmehr wird seit langem wieder ein kritischer Blick riskiert. Dieser gilt nun ganz der jüngeren Szene, wobei sechs Büros mit Fragen nach dem Stand der Tessiner Architektur in einer globalisierten Welt konfrontiert werden.

Überwindung der Enge

Die von Alberto Alessi kuratierte Ausstellung thematisiert Entwicklungen, die ähnlich auch in der Deutschschweiz, in Katalonien oder Vorarlberg festzustellen wären. Denn nach Jahren regionalistischer Selbstgenügsamkeit macht sich aufgrund des Starkults, aber auch dank intensiverem Ideenaustausch und den Möglichkeiten, die der Computer im Entwurf eröffnet, allenthalben ein neuer Internationalismus bemerkbar. Der äussert sich in kubisch abgewinkelten oder organisch fliessenden Bauformen, die neben rigiden Betonkisten immer öfter anzutreffen sind. Deshalb unterscheiden sich die Projekte jener Tessiner Architekten, die aus dem Schatten der grossen regionalen Vorbilder herauszutreten wagten, kaum noch von den Arbeiten ihrer Kollegen anderswo. Zwar fühlen sie sich weiterhin in den Landschaften und Bautraditionen des Tessins verwurzelt: doch von einem Bauen in der Enge wollen sie nicht mehr sprechen. Wie ihre Vorgänger haben die meisten von ihnen an der ETH in Zürich studiert. Während jene aber den einst von Rossi dominierten italienischen Architekturdiskurs auf die eigene Situation übertrugen, sammelten diese ihre Erfahrungen zwischen Sevilla und Tokio. Gleichwohl schlugen nur wenige anderswo Wurzeln: etwa Andrea Bassi in Genf oder Massimo Scheurer und Michele Tadini als Mitglieder von Arassociati in Mailand.

Allerdings unterscheiden sich die von Alessi ausgewählten Teams und Einzelkämpfer von den im Grossraum Locarno ansässigen Vertretern der mittleren und jüngeren Generation wie Arnaboldi, Briccola, Cavadini, den Geschwistern Guidotti oder den Tognola-Brüdern, die die Anliegen der Tendenza weiterzuentwickeln suchen. Deren Eigenheiten - vom kritischen Dialog mit dem Territorium über die Idee, den Ort zu bauen, bis zur Gratwanderung zwischen «poesia e maniera» - sind aber auch den in Rom präsentierten Büros vertraut. Darüber hinaus schätzen auch sie die Ehrlichkeit des Sichtbetons; und auch sie müssen sich oft mit kleinen Aufträgen zufrieden geben, so dass der Villa noch immer eine wichtige Rolle in der Recherche zukommt. Aber ihr Idiom ist geschliffener, internationaler, anonymer geworden - und der realisierte Bau ist ihnen wichtiger als das rigorose Denkmodell.

Bilder und Stimmungen

Kompromisslosigkeit gilt ihnen nicht mehr als höchste Tugend. So haben Durisch & Nolli aus Lugano in Mendrisio ein geschundenes mittelalterliches Steinhaus rehabilitiert und beim Max- Museum in Chiasso den Ort, seine Geschichte und Atmosphäre in das Projekt einbezogen und daraus eine Architektur der Bilder und der Stimmungen entwickelt. Auch Buzzi & Buzzi aus Locarno üben sich im Bauen im Bestand, wenn sie minimalistische Holzkonstruktionen in brüchige Rustico-Mauern integrieren. Doch bei der Planung eines kubistisch abgewinkelten und in die Trockenmauern eingefügten Hauses nähern sie sich einer modischen Formensprache, die auch der Luganese Luca Gazzaniga bei seinen Davoser Entwürfen oder bei der von organischen Öffnungen durchdrungenen Casa Cedrini in Muzzano beherrscht. Gleichzeitig stellt er seine reduzierten Villenquader wie elegante Möbel ins Grüne.

Ganz aus der Landschaft entwickelt ist das neuste Wohnhaus von Giraudi & Wettstein am Monte Brè in Lugano. Dies dank jenem raffinierten Linienspiel, das schon ihren Universitätsbau in Lugano und die mit Cruz & Ortiz konzipierte Basler Bahnhofpasserelle auszeichnete. Ähnlich wichtige Aufträge konnten Scheurer und Tadini von Arassociati mit dem Tiscali-Campus in Cagliari und einer bald vollendeten Wohnbebauung in Zürich-West übernehmen, die stark von ihrem Lehrer Aldo Rossi und den gravitätischen Mailänder Novecento-Palästen Muzios und Portaluppis geprägt ist. Heiterer ist dagegen der Minimalismus von Andrea Bassi. Er stellt in Rom nur seine bunte, mit transluzenten Kunststoffplatten verkleidete Primarschule in Neuenburg zur Diskussion und widmet ihr im Katalogbüchlein ein konkretes architektonisches Gedicht.

Baukünstlerischer Ästhetizismus

All diese Bauten und Projekte sind in der Schau mittels kurzer Videos zugegen, die wie die sechs kleinen, in einem Schuber angebotenen Kataloge von den Büros ebenso individuell wie aufschlussreich gestaltet wurden. Sie machen deutlich, dass sich die neue Tessiner Architektur weder durch formale Ähnlichkeit noch durch ein gemeinsames Programm auszeichnet. Das überrascht nicht, denn schon zur Zeit der Tendenza pflegten die einzelnen Protagonisten ihre eigene Sprache. Nur wurde sie damals durch den gesellschaftspolitisch-kämpferischen Ton übertönt.

Zu Recht spricht Alessi im Zusammenhang mit dem Tessin von «Architetture di Passaggio», von Architekturen des Übergangs zwischen den Kulturen, aber auch von Architekturen in einem Durchgangsland (der Ideen). Dies illustriert er in der Schau mit einem einstündigen Film, der die Fahrt auf der Autobahn von Chiasso bis zum Gotthard zeigt, während aus dem Off die zur Ausstellung geladenen Architekten über ihr Selbstverständnis und die Existenz einer Tessiner Architektur Auskunft geben. Die in ihrer Präsentation weitgehend immaterielle Architekturausstellung bringt die baukünstlerische Interpretation von Identität in einer globalisierten Welt zur Sprache. Sie veranschaulicht aber auch, wie im Tessin das einstmals ethisch begründete Streben nach Einfachheit einer Sehnsucht nach Schönheit und Glamour gewichen ist. Nun darf man gespannt sein, wie die erste an der Akademie von Mendrisio ausgebildete Generation auf diesen baukünstlerischen Ästhetizismus antworten wird.

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