Artikel

Rationalistische Unterwelt
Neue Zürcher Zeitung

Cristián Undurragas neues Kulturzentrum La Moneda in Santiago de Chile

3. März 2006 - Roman Hollenstein
Sie ist ein baukünstlerisches Juwel: die 1780 von Joaquín Toesca (1752-1799) entworfene und vor 200 Jahren als Münzprägeanstalt eröffnete Moneda. Der weisse Palast, der zusammen mit dem eklektizistischen Barrio Civico zum Unesco- Weltkulturerbe ernannt werden soll, gilt als das kostbarste Werk des Frühklassizismus in Lateinamerika und - seit er 1848 zum Präsidentensitz umgebaut worden war - als Symbol der chilenischen Demokratie. Dieser Bau wurde am 11. September 1973 auf Befehl Pinochets bombardiert, und gleichentags schied hier Salvador Allende aus dem Leben. Um ein versöhnliches Zeichen zu setzen, liess Ricardo Lagos nach seinem Amtsantritt im Jahr 2000 die wieder als Präsidentenpalast dienende Moneda für das Volk und die Kultur öffnen. Seither fanden in den beiden Innenhöfen immer wieder Dichterlesungen, Konzerte und Ausstellungen statt.

Um die Politik und die (hier traditionell linksorientierten) Künste in einen noch engeren Dialog zu bringen, beschloss die Regierung Lagos, ein Kulturzentrum zu bauen, und zwar unter der lange vernachlässigten Plaza de la Ciudadanía, dem Platz vor der architektonisch weniger bedeutenden, nach Süden orientierten Rückseite der Moneda. Der Auftrag ging an Cristián Undurraga, einen der bekanntesten chilenischen Architekten der mittleren Generation. Dieser entwarf eine von Bassins und Freiflächen geprägte Platzanlage, unter der er das Centro Cultural Palacio La Moneda (CCPLM) einrichtete. An der Oberfläche tritt das am 26. Januar von Präsident Lagos und Michelle Bachelet eingeweihte, 7000 Quadratmeter grosse Ausstellungs-, Film- und Dokumentationszentrum einzig durch eine Vielzahl gläserner Streifen in Erscheinung, die Licht in das unterirdische Bauwerk bringen.

Beidseits der Wasserflächen wecken zwei abgesenkte Patios am Ost- und am Westrand der Plaza die Neugier der Passanten. Dort betreten sie das unterirdische Reich der Kunst. Durch die von massiven Betonbalken getragene Glasdecke flutet Tageslicht in eine über drei Geschosse sich weitende Halle. Überblick bietet eine umlaufende Galerie, auf die sich Café, Restaurant, Bibliothek und Museumsshop öffnen. Eine breite Rampe mit doppeltem Richtungswechsel führt entlang der blitzartig gezackten, mit unzähligen Bullaugen perforierten und durch Bambus leicht verhüllten Südwand in die Tiefe. Es ist die einzige Extravaganz, die sich Undurraga in dieser lichten, rationalistischen Unterwelt erlaubt. Diese stellt in ihrer klassizistischen Logik und Klarheit gleichsam die Weiterführung der Innenhöfe der ebenfalls dreigeschossigen Moneda unter Tag dar - so dass sie Undurraga zu Recht als «Patio de la Cultura» bezeichnen kann.

Auf dem Mittelgeschoss gewährt die Rampe Zugang zur Cineteca nacional, die aus einem grossen und einem kleinen Kinosaal sowie aus einer Mediathek besteht, bevor man am Grund der mehr als 1000 Quadratmeter messenden, für die Präsentation dreidimensionaler Kunst reservierten Halle ankommt. Hinter einer Glaswand auf der Nordseite befindet sich das Dokumentationszentrum, und durch weite Öffnungen im Osten und im Westen gelangt man in die beiden 600 Quadratmeter grossen Ausstellungssäle, in welchen derzeit eine Übersicht über die präkolumbische Kunst Mexikos zu sehen ist. - Wie die gezackten Wandelemente und das Spiel mit den Perforierungen zeigen, schreckt Undurraga nicht vor modischen Entwurfsideen zurück. Gleichwohl strahlt das CCPLM dank harmonischen Proportionen und materieller Zurückhaltung eine klassische Ruhe aus, von der nicht zuletzt die Exponate profitieren. Die Besucher promenieren unbeschwert auf der Rampe und den Galerien der lichtdurchfluteten, abends spannungsvoll erhellten Halle, in der nie jenes beklemmende Gefühl aufkommt, das man in anderen Anlagen spürt.

Dass Cristián Undurraga ein Meister der subtilen Raum- und Lichtregie ist, hat er bereits mit dem Rathausturm von Las Condes bewiesen. Dessen doppelgeschossiger, von einer wellenartig gebrochenen Decke überdachter Lobby antwortet die Halle des CCPLM mit dem spektakulären Zusammenklang von gezackter Wand und skulpturaler Rampe.

[ Das CCPLM an Plaza de la Ciudadanía ist täglich von 10 bis 21 Uhr geöffnet; die Ausstellung «México. Del cuerpo al cosmos» dauert bis Ende Juli (www.ccplm.cl). ]

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: