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Glastürme und Betonvillen
Neue Zürcher Zeitung

Architektonische Aufbruchstimmung in Santiago de Chile

Chiles Wirtschaftsboom der letzten Jahre spiegelt sich in den Hochhäusern von Las Condes. Doch ausser Glitzerarchitekturen findet man in Santiago de Chile auch interessante neue Bauwerke.

3. März 2006 - Roman Hollenstein
Das lange als erzkonservativ verschriene Chile hat jüngst mit der Wahl von Michelle Bachelet zur ersten Präsidentin eines südamerikanischen Staates der Welt gezeigt, dass es sich seit dem Ende der Pinochet-Diktatur zum gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Musterland gewandelt hat. Gewiss, in Valparaíso, das mit dem brüchigen Charme seiner bunten, 2003 zum Unesco- Weltkulturerbe ernannten Hangsiedlungen noch alle Züge einer Stadt in einem Schwellenland aufweist, ist die Arbeitslosigkeit noch immer gross. Umso deutlicher spürt man den Boom in seiner Schwesterstadt Viña del Mar, wo neue Apartmenttürme wie Pilze aus dem Boden schiessen. In diese nebelkühle Sommerfrische flieht der sich wieder festigende Mittelstand des 120 Kilometer entfernt in einem Hochtal am Fuss der Anden gelegenen Santiago vor der Hitze. Dank dem Aufschwung der letzten Jahre präsentiert sich Chiles Hauptstadt heute als neue Finanzhochburg Südamerikas, in der koloniale Pracht und postmoderner Glitter zu einem faszinierenden Amalgam verschmelzen.

Wirtschafts- und Bauboom

Die Fussgängerzonen im Zentrum der in den letzten 40 Jahren von zwei auf fast sechs Millionen Einwohner angewachsenen Kapitale sind voll von Kauflustigen und von Zaungästen aus den ärmeren Vierteln. Touristen bewundern die in neuem Glanz erstrahlenden Säulenhallen des einstigen Kongresspalastes, das seit 1848 als Präsidentensitz dienende klassizistische Meisterwerk der Moneda und das 150 Jahre alte, eine französisch angehauchte Plaza dominierende Opernhaus oder flanieren durch den sorgsam renovierten Barrio París-Londres, der mit Bauten des Jugendstils und des Art déco kleinstädtisches Leben ins Herz der Metropole zaubert. Doch in Santiago wird nicht nur restauriert, es wird auch gebaut, wie ein Blick vom südöstlich der Innenstadt gelegenen Hügelpark des Cerro Santa Lucía zeigt. Die frontale Sicht auf das alte Zentrum wird einem halb verwehrt durch Glastürme, zu deren Füssen die Porträtbüsten von Gabriela Mistral, Pablo Neruda oder Vicente Huidobro daran erinnern, dass Chile nicht nur eine Wirtschaftsmacht, sondern auch eine bedeutende Kulturnation ist - auch was die Architektur betrifft. Davon könnte demnächst die 300 Meter hohe Torre bicentenario zeugen, die der chilenische Jungstar Mathias Klotz im Hinblick auf die Unabhängigkeitsfeier 2010 beim Mapocho-Bahnhof im Norden der Innenstadt als Raumnadel aus schwarzem Beton und Stahl errichten möchte. Bereits jetzt demonstrieren zwei Fakultätsgebäude auf dem südwestlich des Zentrums gelegenen Areal der Privatuniversität Diego Portales sein Können.

Obwohl sich in den vergangenen Jahren architektonisch viel getan hat, verbindet man in Europa mit der chilenischen Baukunst allenfalls die Escuela de Valparaíso. Die Exponenten dieser 1952 von Alberto Cruz in Viña del Mar als Ableger der Katholischen Universität gegründeten Architekturschule nahmen schon in den sechziger Jahren mit alternativen Wohnmodellen und dekonstruktivistisch anmutenden Bauten spätere Entwicklungen vorweg. Noch heute spürt man den Geist von Valparaíso in den oft organisch sich windenden Bauten von José Cruz Ovalle. Von ihm stammen Neubauten der Privatuniversität Adolfo Ibáñez sowie die Mensa auf dem Campus der Architekturfakultät der Katholischen Universität in Santiago. Für diese architektonisch engagierte Hochschule realisierte der auch als Theoretiker einflussreiche 39-jährige Alejandro Aravena neben dem historischen Hauptsitz am Alameda-Boulevard ein neues Fakultätsgebäude, dessen mit grossen Klinker-Scheiben verschattete Nordfassade vom Cerro Santa Lucía aus zum Greifen nahe scheint.

Stadt der Zukunft

Weit hinter Aravenas Fakultätsgebäude glänzt vor den Schneeriesen der Anden die Skyline von Las Condes. Sie steht weniger für Chiles architektonische Blüte als vielmehr für den gigantischen Investorenrausch, der die 1901 gegründete Gemeinde in Santiagos wohlhabendem Osten in den letzten Jahren in ein pulsierendes Wirtschaftszentrum mit 250 000 Einwohnern verwandelt und so die architekturgeschichtlich wertvolle Innenstadt etwas vom Baudruck befreit hat. Denn von den zentral gelegenen Ministerien, Banken, Universitäten und Kulturinstituten erreicht man mit der Metro in gut zehn Minuten die gläsernen Kaskaden, Segel oder Pyramiden der Bürotürme von Las Condes. Im Meer all dieser Kommerzarchitektur entdeckt man aber auch Qualitätsbauten wie die Torre Manantiales von Luis Izquierdo und Antonia Lehmann an der vornehmen Avenida Isidora Goyenechea. Mit bald vertikal, bald diagonal gestellten Betonpfeilern verweist ihr Fassadenbild auf die erdbebensichere Konstruktion. Dieses Zusammengehen von Form und Struktur wurde 2004 mit der Aufnahme in die MoMA-Schau «Tall Buildings» belohnt.

Ein Spaziergang durch den neu am Rio Mapocho angelegten Parque de las Américas, an dem das World Trade Center immer weiter expandiert, lässt etwas von der Lebensqualität von Las Condes erahnen, wo man das höchste Pro-Kopf- Einkommen und die niedrigste Arbeitslosenrate Lateinamerikas registriert. Derselbe Eindruck wiederholt sich beim Parque Araucano, neben dem gerade die Turmbauten des von Hellmuth, Obata & Kassabaum (HOK) entworfenen Neubauquartiers Nueva Las Condes vollendet werden. Nachdem an der Plaza de la Palabra bereits vor drei Jahren mit dem Huidobro-Turm von HOK und Corvalán ein banaler Investorenbau eröffnet worden ist, gehen jetzt die beiden 23-stöckigen, nach Mistral und Neruda benannten Bürohäuser von A4 Arquitectos sowie eine Shopping-Mall mit Theater und Konferenzsälen der Vollendung entgegen. Architektonisch relevant ist aber nur die Torre «CorpGroup» von Cristián Boza: ein skulpturaler 26-stöckiger Glasquader mit kantigen Auskerbungen.

Für ein architektonisches Zeichen entschied sich die Gemeinde Las Condes, als sie beschloss, unweit des alten Rathauses, eines nun als Kulturzentrum genutzten Art-déco-Baus von 1942, einen Neubau zu errichten. In der Glitzerwelt der Avenida Apoquindo erscheint der vom Architekten Cristián Undurraga zusammen mit dem Bauingenieur Rafael Gatica konzipierte 17-stöckige Turm wie ein Bote aus einer anderen Welt. Das 2004 vollendete Werk beweist, dass auch im Hochhausbau mehr als nur Oberflächendesign möglich ist. Die Fassade, welche wie diejenige des Manantiales-Turms ihre antiseismische Struktur zur Schau stellt, erinnert mit ihrem x-förmigen, die stützenfreien Geschossplatten tragenden Geflecht aus betonumhüllten Stahlträgern an einen Korb. Dabei ist diese bildhafte Vereinigung von Architektur und Ingenieurtechnik - wie für gute Neubauten in Chile typisch - einem kraftvollen, unmodischen Rationalismus verpflichtet.

Ein gegenüber der Strasse abgesenkter Hof führt einen zu den Wurzeln des Fassadengitters. Ebenerdig bringt die doppelgeschossige Eingangshalle Licht und Raum zum Klingen. Unmittelbar darüber befinden sich der Plenarsaal der Stadtregierung und anschliessend die zwölf Bürogeschosse. Formale Ästhetik, bautechnische Funktionalität, räumliches Raffinement und materielle Einfachheit machen diesen Verwaltungsbau zu einem Markstein der neuen Hochhausarchitektur in Lateinamerika, dem wohl nur Carmen Pinos' Torre Cube im mexikanischen Guadalajara das Wasser reichen kann.

Es sind immer wieder Betonbauten, die seit dem legendären, 1964 unter dem Eindruck von Le Corbusiers La Tourette von Gabriel Guarda und Martín Correa realisierten Benediktinerkloster von Las Condes in Chiles Architektur für Höhepunkte sorgten. Das zeigt sich auch im Wohnbau. So hat Gonzalo Mardones im vergangenen Jahr mit dem ebenso harten wie eleganten, von zwei Penthousewohnungen mit eigenen Swimmingpools bekrönten Edificio Glamis frischen Wind in die schicken Wohnzonen von Las Condes gebracht. Aber auch die vielen neuen Betonvillen, die Cruz Ovalle, Izquierda & Lehmann, Klotz, Mardones oder Undurraga in den Hügeln von Las Condes und der angrenzenden Nobelgemeinde Vitacura errichten konnten, veranschaulichen die in der Architekturszene von Santiago herrschende Aufbruchstimmung.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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