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Nur nicht auffallen
Neue Zürcher Zeitung

Diskussion zum heutigen Stand der Baukultur in Deutschland

2. August 2002 - Olaf Kaltenborn
Als der Philosoph Martin Heidegger die Kunst streng abgrenzte von der «Zeughaftigkeit» der uns umgebenden Alltagsdinge, dachte er bestimmt nicht an die deutsche Architektur. «Das einzelne Zeug», schreibt Heidegger in «Sein und Zeit», «wird abgenutzt und verbraucht (. . .). Diesem Schwund verdanken dann die Gebrauchsdinge jene langweilig aufdringliche Gewöhnlichkeit.» Heidegger gibt uns mit Blick auf die Mutter aller Künste, die Architektur, eine Nuss zu knacken. Ist das fertige Bauwerk ein sich im alltäglichen Umgang abschleifendes «Zeug» wie Löffel oder Glas? Oder ist es ein Kunstwerk und damit dem Verfall durch die konsumierende Vernutzung entzogen? Damit aber nicht genug: Während Löffel oder Glas vor den Blicken der Öffentlichkeit verborgen in Schubladen und Schränken auf ihren Gebrauch warten, steht die Architektur als die öffentlichste aller kulturellen Äusserungen unter den Augen des Publikums. Es ist schlechterdings ihr Wesen, öffentlich zu sein. Doch weil sie so öffentlich ist, fällt sie oft gar nicht mehr auf. Sie gerät paradoxerweise unter den Blicken des Publikums in einen Modus der Vergessenheit.

Peter Conradi, Präsident der deutschen Bundesarchitektenkammer, ist diese Vergessenheit der Architektur in Deutschland ein Dorn im Auge. «Zweifellos ist es ein Defizit in Deutschland, dass wir bei weitem nicht das öffentliche Interesse an der gebauten Umwelt haben wie in der Schweiz oder den Niederlanden», bedauert der ehemalige SPD-Sprecher der Bundestags-Baukommission gegenüber der NZZ. Deutsche Architekten seien zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass «sie ihre Aufgabe, Bewusstsein und Kritikfähigkeit zu wecken, ausreichend wahrnehmen könnten». Während Ärzte, Lehrer, Rechtsanwälte mit starker Stimme ihre Interessen in Landesparlamenten und im Bundestag artikulieren, scheinen die Architekten nicht mal ein Stimmchen zu besitzen.

Leidet die deutsche Architektur nur unter einem Vermittlungsproblem? Wird ihr Genius im In- wie im Ausland verkannt? Nein, meint Armin Rogall, Dekan für Architektur an der Fachhochschule Bochum: «Das Elend der deutschen Baukultur besteht darin, dass es keine Baukultur mehr gibt.» In seinen Augen fehlt deutschen Architekten «der Mut zum Wagnis und zur Grenzüberschreitung». Dieser setzte kulturelle Horizonte voraus, um deren Bildung es aber gerade an deutschen Universitäten schlecht bestellt sei. Das Ergebnis sei ein «traditionsvergessener Investorenschmalz, der sich überall breit macht». Forscht man nach den tieferen Ursachen dieser Misere, erhält man einige überraschende Antworten. Die merkwürdige Gleichgültigkeit des Publikums an seiner gebauten Umwelt scheint in direkter Proportionalität zu stehen zu einem Mangel an unmittelbarer politischer Partizipation der Deutschen, vermutet Rogall. Gerade die Meinung jener Menschen, in deren Lebenswelt ein neues Bauwerk entsteht, werde in Deutschland eher als Störung denn als Bereicherung empfunden. Es gebe bei der Planung ein grosses Demokratiedefizit. Dabei zeigen die Erfahrungen mit der Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park (1989-99) und verschiedenen Perspektivenwerkstätten in Essen, Mülheim und Leverkusen, wie stark Partizipation den öffentlichen Diskurs über Planen und Bauen beleben kann.

Auch die deutsche Wiedervereinigung hat nach Ansicht von Kammerpräsident Conradi der Entwicklung eines baukulturellen Bewusstseins kaum genutzt. Wenn deutsche Architektur heute im internationalen Massstab oft zweite Wahl sei, liege das auch an dem «Goldrausch der beginnenden neunziger Jahre, als niemand gross nach Baukultur fragte. Da wurde eben gebaut, weil alle bis zur Halskrause voll mit Aufträgen waren.» Als Mitte der neunziger Jahre die Bautätigkeit radikal einbrach, begann die «Diktatur des Preises», wie es Conradi ausdrückt. Die Folgen waren «viele unanständige Wettbewerbsverfahren, viele Generalunternehmer, die die Planung gleich mit machten und Architekten nur noch als Subunternehmer beschäftigten». Der Architekt gestaltete nicht mehr, er versuchte oft nur noch, das Schlimmste zu verhindern. Erst mit der Krise tauchte die Frage auf: «Wollen wir, dass Geld der Massstab für die Qualität unserer gebauten Umwelt ist?» Ende der neunziger Jahre begann dann auch in Deutschland eine öffentliche Debatte - im europäischen Vergleich jedoch «fünf Jahre zu spät».

Im Wiedervereinigungstaumel haben deutsche Architekten offenbar auch das Ausland schlicht und einfach vergessen. Abgesehen von Ausnahmen wie von Gerkan, Marg und Partner in China taten sie wenig, um sich jenseits der Grenzen zu exponieren. Derweil gründete Frankreich die Association des Architectes Français à l'Export (AFEX), ein inzwischen höchst erfolgreiches Netzwerk für Architekturexport. Umgekehrt öffnete sich nach der Wiedervereinigung der deutsche Markt sehr stark für ausländische Architekten: Die spektakulärsten Duftmarken in Berlin setzten Norman Foster, Frank Gehry, Helmut Jahn, Daniel Libeskind und Renzo Piano. Die Liste der Berliner Architekten, die an der «grössten Baustelle Europas» beteiligt waren, ist dagegen vergleichsweise kurz: Axel Schultes und Charlotte Frank mit dem Bundeskanzleramt, Thomas Müller und Ivan Reimann mit dem Neubau des Auswärtigen Amts, Gernot und Johanne Nalbach mit dem Haus der Bundespressekonferenz, Hans Kollhoff mit dem Hochhaus am Potsdamer Platz, Josef Paul Kleihues mit den Bauten am Brandenburger Tor sowie Sauerbruch & Hutton mit dem GSW-Hochhaus an der Kochstrasse. Mit Unterstützung der Bundesregierung baut nun die Bundesarchitektenkammer seit Anfang 2002 ein Netzwerk Architekturexport (NAX) auf. Ebenfalls auf Initiative der Kammer versucht seit eineinhalb Jahren eine Initiative Baukultur der Architekturdebatte neuen Schwung zu verleihen. Wie weit Deutschland hier zurückliegt, zeigt ein schlichtes Datum: Der erste nationale Kongress zum Thema «Baukultur in Deutschland» wurde im Dezember 2001 in Köln durchgeführt. Auch Conradi beschleicht da ein flaues Gefühl: «Man kann sich zu Recht fragen: Warum habt ihr das nicht schon vor zehn, zwanzig Jahren gemacht?» Doch letzte Woche fand nun zudem in Berlin der erste in Deutschland veranstaltete internationale Architekturkongress (NZZ 26. 7. 02) statt.

Aber Conradi will noch mehr: Grosse Summen würden von der Bundesregierung für die Vermittlung zeitgenössischer Kunst ausgegeben, nicht aber für die Vermittlung von zeitgenössischer Baukultur. Ein «kläglich finanziertes Deutsches Architekturmuseum» in Frankfurt am Main und die Aktivitäten von ein bis zwei privaten Galerien, das sei bereits alles, was sich Deutschland zu diesem Thema leiste. Ganz anders Holland, wo das Niederländische Architekturinstitut (NAI) in Rotterdam seit 1993 Massstäbe in Sachen Baukultur setzt und die Debatte bis in die Provinz trägt. Über das Land sind kleinere Architekturzentren verteilt, und das Architectuur-Lokaal in Amsterdam dient als Informationsbörse für Bauherren. Ausserdem gibt es einen Reichsbaumeister, der die Architektur auf nationaler Ebene ins Gespräch bringt. Rund 16 Millionen Euro ist den Niederlanden diese Vermittlung von Baukultur jährlich wert. Anstrengungen auch mit Vorbildcharakter für Deutschland, meint Conradi: «Von den Niederlanden können wir lernen, wie man einer interessierten Bürgerschaft das Thema Architektur vermittelt und wie sich Architekten noch besser in die öffentliche Debatte einbringen können.»

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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