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Denken und Bauen
Neue Zürcher Zeitung

Ausgewählte Quellentexte zur Architekturtheorie

31. August 2002 - Carsten Krohn
Bereits mit 19 Jahren, so wird berichtet, erhielt Etienne-Louis Boullée eine Professur für Architektur. Berühmt wurde er jedoch weder mit Bauten noch mit Schriften, sondern mit architektonischen Darstellungen. Er selbst bezeichnete sich als Maler. Sein Lehrbuch, das er nach der Französischen Revolution beendet hatte, wurde erst 150 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht. Darin stellte er visionäre Entwürfe dar. Der Text, mit dem er diese erläuterte, ist eine Verteidigungsschrift gegen den Vorwurf der Unrealisierbarkeit. Obwohl er darlegte, dass seine Projekte auch in finanzieller Hinsicht günstig seien, sind sie als Utopien in die Geschichte eingegangen.

Damit Entwürfe nicht Theorie bleiben, sind Architekten darauf angewiesen, Bauherren zu überzeugen. Doch wenn auf Grund des Ausbleibens von Aufträgen ihre berufliche Existenz bedroht ist, ist die Theorie nicht selten der rettende Anker. Anderseits finden bauende Architekten kaum Zeit, um neben der Architekturberichterstattung in den Tageszeitungen auch noch Fachpublikationen zu lesen. In einer Diskussionsrunde über die Rolle der Architekturkritik sagte kürzlich der Chefredaktor einer Architekturzeitschrift, dass seine Publikation eher angeschaut denn gelesen werde, und bezeichnete die Texte als «Grauwerte». Obwohl das griechische Wort Theorie ursprünglich Anschauung und Betrachtung bedeutete, stellt alleiniges Beschreiben so wenig wie das Äussern der eigenen Meinung bereits eine Theorie dar. - Nun aber befragt eine soeben erschienene Publikation eine Auswahl von architekturtheoretischen Quellentexten der letzten zweitausend Jahre auf ihren Theoriegehalt. Zusammengestellt und kommentiert wurde sie von Fritz Neumeyer, Professor für Architekturtheorie in Berlin, unter Mitarbeit von Jasper Cepl.

Die Wirkung von Andrea Palladios «I quattro libri dell'architettura» von 1570 war nicht zuletzt auf Grund der Abbildungen gewaltig, liessen sich doch ganze Architektengenerationen von diesen inspirieren, ohne dass sie Palladios Bauwerke jemals im Original gesehen hatten. Als eigentlicher Vater der Architekturtheorie aber gilt Vitruv, der in römischer Zeit Kriegsmaschinen konstruiert hatte, bevor er das erste vollständig überlieferte Architekturtraktat verfasste. In der italienischen Renaissance wurde es wiederentdeckt und systematisch studiert. Es bildete die Grundlage für Abhandlungen, in denen das gesamte zum Bauen nötige technische und ästhetische Wissen zusammengefasst wurde. Aber nicht nur Fachleute haben über das Bauen nachgedacht. In einer Schrift, die jetzt auszugsweise ins Deutsche übersetzt wurde, lenkte im 17. Jahrhundert der angesehene Arzt Claude Perrault die Aufmerksamkeit von praktischen Baubelangen hin auf die Wirkung von Bauwerken. Indem er begann, den vitruvianischen, auf festgelegten Proportionen basierenden Schönheitskanon in Frage zu stellen, löste er Kontroversen aus. So fing der architekturtheoretische Diskurs an, sich zu verzweigen.

Während die Traktate zunächst aufeinander aufbauten, trennten sie sich im 19. Jahrhundert den Ästen eines Baumes gleich in unterschiedliche Richtungen. In England und Frankreich setzten sich John Ruskin und Viollet-le-Duc für die in Vergessenheit geratene Baukunst des Mittelalters ein und stellten sich gegen die von ihrem deutschen Kollegen Gottfried Semper portierte Renaissance. In Zürich verfasste Semper damals sein Werk «Der Stil», in dem er sich auf die Suche nach den Ursprüngen des Bauens begab, um das Wesen der Architektur zu ergründen. Die von ihm entwickelte Bekleidungstheorie inspirierte sogar Friedrich Nietzsche, wie Neumeyer in einem früheren Buch aufzeigen konnte.

Im 20. Jahrhundert verzweigen sich schliesslich die Diskurse zu einem komplexen Geflecht, so dass jeder Versuch, repräsentative «Schlüsseltexte» auszuwählen, die Gefahr eines Zurechtstutzens birgt. Das Bemühen, Architekturtheorie von Architekturgeschichte abzugrenzen, zeigt sich im Heranziehen von schreibenden Architekten wie Le Corbusier, Aldo Rossi oder Peter Eisenman zuungunsten von Architekturhistorikern wie Sigfried Giedion, Nikolaus Pevsner oder Manfredo Tafuri. Auch Philosophen, Soziologen oder Künstler wurden übergangen. Begründungen, warum einige Autoren auftauchen und andere - wie etwa Adolf Loos - fehlen, suchen die Leser vergebens. Einen offensichtlichen Schwerpunkt nimmt ein Forschungszweig ein, der Architektur als Raumphänomen begreift. Das Stichwort «Raum» im Register verweist auf die Autoren August Schmarsow, Herman Sörgel und Dagobert Frey und öffnet Türen für eine Raumforschung. Hingegen taucht der Begriff Utopie im Register nicht auf, denn was sollte sich ein Architekt davon versprechen, die eigenen Entwürfe als utopisch zu bezeichnen? Auch wenn in den Quellentexten und in deren Auswahl eine bestimmte Architekturauffassung deutlich wird, dürfte dieses Buch zu einem Standardwerk werden.

[ Quellentexte zur Architekturtheorie. Hrsg. Fritz Neumeyer unter Mitwirkung von Jasper Cepl. Prestel-Verlag, München 2002. 608 S., Fr. 87.-. ]

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