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Querdenker und spannender Essayist
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Dem 1995 verstorbenen österreichischen Architekten ist ein Raum der diesjährigen Architekturbiennale gewidmet.

11. September 2002
Jan Turnovsky, emigrierter Tscheche, hatte seit den 70er Jahren vor allem als kreativer Denker, Theoretiker und Lehrer an der TU Wien wesentlichen Einfluss auf viele jetzt aktive Architekten. 1995 ist er freiwillig aus dem Leben geschieden.


Architekt ohne Bauwerk

Turnovsky hat zwar an mehreren Wettbewerben teilgenommen und am Anfang seiner österreichischen Karriere auch in Architekturbüros gearbeitet - aber ein ausgeführtes Projekt, das eindeutig ihm zugeordnet werden kann, ist nicht bekannt.

Auf der Biennale werden Teile seines Nachlasses gezeigt, bestehend vor allem aus Schriften und höchst originellen Zeichnungen zur Architektur. Sein einziges veröffentlichtes Werk nennt sich „Die Poetik eines Mauervorsprungs“. Ein spannend zu lesender großer Essay, der rund um ein kleines Detail im Wiener Haus Wittgenstein entwickelt wird.

Der betreffende Mauervorsprung findet sich in den Plänen, die der Philosoph Ludwig Wittgenstein für die von ihm entworfene Villa in Wien gezeichnet hat. Der Philosoph wollte ein vollkommen proportioniertes Haus bauen, eine raumgewordene geistige Ordnung.


Haus Wittgenstein

Ein Gefüge reiner, klarer Geometrien sollte es im Fall von Wittgenstein werden. So wollte er im Frühstückszimmer ein Fenster so in die Mitte einer Wand setzen, dass sich von außen und von innen eine vollkommen symmetrische Unterteilung ergibt. Das ging aufgrund eines Denkfehlers (!) schief. So ergab sich zwingend ein Sprung in der Symmetrie. Den wollte der Philosoph durch einen Mauervorsprung, den Mauervorsprung, kaschieren.


Irritierendes Detail

An diesem Baudetail setzt Turnovsky anschaulich ein Grundproblem, ein Urdilemma der Architektur auseinander: Die praktischen Erfordernisse der Materie, mit der man baut, verhindern immer die perfekte Umsetzung eines idealen Konzepts. Anhand des Mauervorsprungs erklärt Turnovsky dann in vielen Aspekten, wie dreidimensionale Form im Kopf entsteht und wie sie wahrnehmungspsychologisch wirkt..


Poetik des Mauervorsprungs

Der nicht einmal hundertseitige Text „Die Poetik eines Mauervorsprungs“ hat aber noch viel mehr Facetten - man hat beim Lesen dauernd Aha-Erlebnisse. Architektur wird in Relation zur Dichtung, also zur Sprache gesetzt - der Autor zitiert zum Beispiel Umberto Eco und Novalis, fragt nach, wie sich bei der Wahrnehmung von Kunst Sinneseindrücke mit deren rationaler Verarbeitung mischen, erklärt, wodurch ein Objekt sich überhaupt als Kunst zu erkennen gibt, oder wie der Begriff des Poetischen für die Künstler der klassischen Moderne den gesamten Alltag durchdringen konnte. Ein Netzwerk von oft verblüffenden Gedankenexperimenten wird aufgebaut. Turnovsky hat sich auch nicht gescheut, Ikonen des modernen Denkens infrage zu stellen, wie Wittgensteins Frühphilosophie im „Tractatus logico-philosophicus“.


Seine Schüler

Der charisamtische Denker Turnovsky hatte großen Einfluss auf das Bauen in Österreich; denn an der technischen Universität Wien haben viele heute wichtige Architekten wie etwa Andras Palffy seine Vorlesungen, zum Beispiel „Elemente und Syntax des Wohnbaus“ besucht.


Wettbewerbe

Bei großen Architekturwettbewerbe ist Turnovsky durch seine mehr als unorthodoxen Einreichungen aufgefallen. So hat er für das Museumsquartier einen verglasten Bau vorgeschlagen, der vor der Fischer-von Erlach-Anlage stehen sollte, erinnert sich Sigrid Hauser, Professorin für Architekturtheorie an der TU.


[Tipp:
Das Buch „Die Poetik eines Mauervorspungs“ ist in der Reihe bauwelt Fundamente im Viehweg-Verlag 1999 neu aufgelegt worden.]

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