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Von der Installation zum Museumsbau
Neue Zürcher Zeitung

Das New Yorker Architektenteam Diller und Scofidio

Lange Zeit vornehmlich im Bereich multimedialer Installationen tätig, zählen Elizabeth Diller und Ricardo Scofidio erst seit jüngstem zu den Stars der amerikanischen Architekturszene. Nach der «Blur» genannten Wolke in Yverdon entstehen nun zwei wichtige Kulturbauten an der Ostküste der Vereinigten Staaten. Beide Projekte sind in der Hauptausstellung der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig ausgestellt.

1. Oktober 2002 - Hubertus Adam
Ohne Zweifel: Neben einer Überfahrt zu Jean Nouvels Monolithen in Murten zählt der Besuch der «Wolke» in Yverdon zu den eindrücklichsten Erlebnissen auf der Expo 02. Bald konturlos mit dem Nebel verschmelzend, bald zu einem duftigen Schleier vor blauem Himmel sich formierend, wirkt das «Blur Building» des New Yorker Architektenteams Diller und Scofidio wie ein Katalysator der Wahrnehmung: Der Besucher taucht ein in die dunstige Wolke, hört, riecht und spürt das versprühte, sich wieder zu Tropfen ballende Nass, um schliesslich die Treppen emporzusteigen und in strahlender Sonne über der Wolke zu stehen - mit Blick auf Neuenburgersee und Jura. In den USA, so erzählt Elizabeth Diller in ihrem Büro am Cooper Square in Manhattan, sei ein derartiges Projekt undenkbar: Ins Nichts einzutauchen, die Orientierung zu verlieren, das Ziel des Weges nicht zu erkennen, das widerspreche dem amerikanischen Bedürfnis nach Sicherheit.


Kunst, Natur und Architektur

Hatte Mies van der Rohe eine Architektur aus Haut und Knochen propagiert, so arbeiteten Diller und Scofidio in Yverdon mit dem reinen Skelett und negierten genau jene Schutzfunktion, welche der Architektur traditionell zugeschrieben ist. Denn das Gerüst - von einem «Gebäude» kann man kaum sprechen - konfrontiert den Menschen mit elementaren Phänomenen der Natur, die man gemeinhin an anderen Orten erlebt, etwa bei Wanderungen im Hochgebirge oder an Bord eines Flugzeugs, das die Wolkendecke durchsticht. Die Vision dynamischer Körper, welche die Expressionisten um 1920 bewegte, bei Archigram in den sechziger Jahren wiederkehrte und in der Blob-Ästhetik der computergenerierten Architektur der Gegenwart ihre bisher letzte Transformation erlebte, wird im «Blur Building» durch eine technisch raffinierte Anwendung physikalischer Gesetze sinnlich evident; Natürlichkeit und Künstlichkeit fallen in eins. Gleichzeitig aber knüpfen die Entwerfer mit der Wolke an die Kategorie des Sublimen oder Erhabenen an, welche im 18. Jahrhundert die Wahrnehmung der Natur bestimmte, vor allem in der Schweiz.

Das experimentelle Vorgehen, welches die Beschränkungen der architektonischen Praxis zu überwinden sucht, ist typisch für die Arbeit der 48-jährigen Elizabeth Diller aus Lodz und des 1935 geborenen New Yorkers Ricardo Scofidio, die seit 1979 ein gemeinsames Büro führen. Multimediaarbeiten und Installationen waren es, mit denen das Duo zunächst Aufmerksamkeit fand - ein für die jüngere amerikanische Architekturszene nicht untypisches Phänomen. Denn wo der Architekturmarkt von einigen Grossbüros beherrscht wird und für spektakuläre Kulturbauten die Top 20 der internationalen Baukunst in wechselnder Besetzung eingeflogen werden, bleiben ambitionierten Newcomern einzig die Räume von Galerie und Universität (Diller lehrt in Princeton, Scofidio in Sichtweite des Büros an der Cooper Union) als Versuchslabor. Im Falle von Diller und Scofidio allerdings auch jener des Theaters; mit dem Belgier Frédéric Flamand und seiner Compagnie Charleroi/Danses arbeitete das Team bei insgesamt drei Choreographien zusammen. Auf «Moving Target», mit dem Flamand 1996 seine mit Zaha Hadid und Jean Nouvel fortgesetzte Trilogie «Danse et Architecture» begann, folgten zwei Jahre später «EJM1: Man Walking at Ordinary Speed» und «EJM2: Inertia», bei denen sie sich mit den photographischen Bewegungsstudien von Muybridge auseinandersetzten.

Die Zerlegung von Handlungen in eine Sequenz von Bildern bestimmt auch die Installation «Travelogues» im John F. Kennedy Airport in New York. Die ankommenden Reisenden passieren auf Panels erscheinende Röntgenbilder fiktiver Koffer, deren sukzessiv sich offenbarender Inhalt auf ironische Weise Geschichten von den Besitzern und ihren Reisezielen erzählen. Diese Idee wurde für die künftige Installation «Facsimile» am Erweiterungsbau des Moscone Convention Center San Francisco weiterentwickelt: Ein an einer Schiene aufgehängter Video-Screen umrundet den Bau und erlaubt mit seiner Projektion gleichsam durch die Fassade hindurch Einblicke in das Geschehen im Inneren des für private Veranstaltungen genutzten Gebäudes.


Späte Karriere

Als Architekten wurden Diller und Scofidio einer breiteren Öffentlichkeit allerdings erst durch die Neugestaltung der «Brasserie» im Seagram Building bekannt (NZZ 23. 2. 01). Phyllis Lambert, die ihren Vater Samuel Bronfman seinerzeit dazu überredet hatte, Mies van der Rohe mit dem Hochhausprojekt zu betrauen, votierte für das interdisziplinär arbeitende Architektenpaar. Ort der Intervention war das einem Feuer zum Opfer gefallene, ursprünglich von Philip Johnson eingerichtete Restaurant im Sockelgeschoss. Vom Eingang an der East 53rd Street führt eine gläserne Treppe mitten hinein in den fensterlosen Raum, der durch die Soft-Edge-Ästhetik der Formen, die weichen Materialien Kunstharz und Holz sowie die Pastelltöne des Interieurs eine Gegenposition zur geometrischen Klarheit des darüber befindlichen Gebäudes bezieht. Ausgangspunkt war die kuriose Tatsache, dass es sich bei Mies' Meisterwerk zwar um ein ringsum verglastes Gebäude handelt, Tageslicht in der «Brasserie» aber überhaupt nicht zur Verfügung steht. Wiederum ging es um Transparenz und Verschleierung, um Sichtbarwerden und Verschwinden: Eine unauffällig postierte Kamera photographiert die Eintretenden, die auf Monitoren oberhalb der Bar den bereits Anwesenden präsentiert werden.

Nachdem Diller und Scofidio mit dem die Rigidität des spätmodernen Wohnblocks aufbrechenden «Slither Housing» (2001) im japanischen Gifu ihr erstes grösseres Projekt realisieren konnten, gewannen sie im vergangenen Jahr gegen Peter Zumthor und Studio Granda den Wettbewerb für den Neubau des Institute of Contemporary Art (ICA) in Boston. Als kultureller Magnet soll der spektakulär über die Uferfront auskragende Baukörper aus Glas und Beton zum Herzstück der Revitalisierung des alten Hafens von Boston werden. Das Gebäude umfasst unterhalb der Galerieebene auch ein Auditorium, dessen Sitzreihen sich jenseits der Glaswand als Freitreppe bis hin zur Uferpromenade fortsetzen.

Anschliessend an eine erste Präsentation in den USA wird das ICA jetzt auch auf der Architekturbiennale gezeigt. Dort ist auch das zweite der derzeit in der konkreten Planungsphase befindlichen Projekte ausgestellt, der zur Ausführung bestimmte Entwurf für das als Nonprofitorganisation im Kunst- und Multimediabereich agierende Eyebeam Atelier in Manhattan. In der Finalrunde des Wettbewerbs hatte sich das Duo gegen Leeser Architecture (New York) sowie MVRDV (Rotterdam) durchsetzen können. Gebildet wird der Neubau des Museums- und Ateliergebäudes aus einer quer zur Strasse sich in die Höhe schraubenden Bandstruktur, bei der Boden, Wand und Decke ineinander übergehen. Die Fassade, welche wie ein Schnitt durch das Gebäude wirkt, erinnert an Entwurfsstrategien von OMA, MVRDV oder UN Studio, und doch gelang den Architekten eine überzeugende Weiterführung des Gedankens. Indem das die Stockwerke scheidende Band zweischichtig aufgebaut ist, entstehen von Sichtbeton umgebene Räume für die Präsentation sowie mit modularen Paneelen ausgekleidete Bereiche für die Produktion. Fraglos wird das für den Szene-Stadtteil Chelsea geplante Eyebeam Atelier zu einem Wahrzeichen innerhalb der mit wegweisender zeitgenössischer Architektur nicht gerade gesegneten Stadtlandschaft Manhattans werden. Mit einer Retrospektive im Whitney Museum wird New York dem Büro Diller und Scofidio im kommenden Jahr die lange verweigerte Anerkennung zollen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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