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Ein Wolkenkratzer für New York
Neue Zürcher Zeitung

Das Schlussbukett des Gaudí-Jahres in Barcelona

2. Oktober 2002 - Roman Hollenstein
Obwohl «L'universo Gaudí», die zentrale Schau des Gaudí-Jahres, und mit ihr mehrere Begleitausstellungen soeben in Barcelona ihre Pforten schlossen, surft Katalonien weiterhin auf den Wellen der Gaudimanía: Nicht nur hatte Ende September Albert Guinovarts Musical «Gaudí» im Teatro Musical Premiere; auch die Touristen stehen weiterhin geduldig Schlange, um Einlass zu finden in die Häuser Batlló, Calvet und Vicens, das Colegio de las Teresianas oder die Torre de Bellesguard, die anlässlich des 150. Geburtstags des populären Architekten dem Publikum vorübergehend zugänglich sind. Einzig im Küstenstädtchen Garraf herrscht Ruhe, denn hier lässt sich die prächtige Miniatur der Bodegas Güell nur nach Voranmeldung besuchen. Das eigentliche Hauptwerk, das Gaudí für seinen grossen Mäzen Eusebi Güell errichtete, die Kirche in der Colònia Güell, lockt hingegen die Jünger zu Tausenden, obwohl es bekanntlich nicht über die Krypta hinausgediehen ist. Eine Zeichnung des Meisters gibt jedoch einen Eindruck davon, wie dieser Sakralbau hätte aussehen sollen. Anders als die gotisch- filigrane Sagrada Família wäre sie mit ihren eng zusammengerückten Paraboloid-Türmen wie ein «Jerusalén celestial» in Erscheinung treten.


«Gaudí en Manhattan»

Die Vision gebliebene «Skyline» dieses «himmlischen Jerusalem» strahlte bis nach New York aus, denn just als Gaudí an der Colònia arbeitete, erreichte ihn aus den USA das Ersuchen, einen Hotel-Wolkenkratzer für Lower Manhattan zu kreieren. Er entwarf daraufhin wohl zwischen 1908 und 1911 einen 310 Meter hohen «Rascacielos», der sich über mandalaförmigem Grundriss als zentraler Turm mit untergeordneten Halbtürmen hätte erheben sollen. Während diese für die Suiten des Hotels «Attraction» bestimmt waren, hätte der Hauptturm über einer riesigen Lobby fünf nach den Kontinenten benannte Restaurants, Ausstellungsräume, ein Museum, einen Konzertsaal sowie - in der Spitze des Paraboloids - einen Amerika-Saal von 114 Metern Höhe aufnehmen sollen.

Dieses hochmütige Werk, das bis heute zum Geheimnisvollsten im Schaffen des Katalanen zählt, wird gerne als Beweis dafür zitiert, dass Gaudí nicht nur der religiös überspannte Erbauer «sublimer Abnormitäten» war, als den ihn der Mythos so gerne sieht, sondern dass dieser Meister der Geometrie durchaus auch eine weltläufige Seite hatte. Diese Behauptung wurde aber jüngst in Frage gestellt durch eine geistreiche Kurzgeschichte des jungen Katalanen Carlos Ruiz Zafón, in der dieser der Frage nachgeht, warum Gaudí, der für die Sagrada Família nur «den Allerhöchsten als Auftraggeber» anerkennt, von einer unbekannten Person den Auftrag zum Bau eines Hochhauses in New York entgegennimmt. Obwohl dem frommen Baukünstler die Tatsache bewusst ist, dass ein Wolkenkratzer nichts anderes als eine Kathedrale für Leute ist, die nur ans Geld glauben («para gente que en vez de creer en Dios cree en el dinero»), zeigt er sich bereit, diese «Torre babilónica» zu errichten. Hofft er doch, dass der Auftraggeber im Gegenzug die Kosten für die Vollendung seines Lebenswerks, der Sagrada Família, übernehmen werde. Deswegen bricht er im März 1908 mit dem jungen Studenten Miranda als Dolmetscher nach New York auf, um dort seine Entwürfe zu präsentieren. Doch das Projekt scheitert, weil Gaudí im geheimnisvollen Auftraggeber, der dem jungen Miranda als eine sich katzenartig bewegende Frau mit reptilhaftem Lächeln erscheint, schliesslich den Leibhaftigen erkennt. Bestürzt über seinen frevelhaften Leichtsinn, tritt er sofort die Heimreise an, während deren er - zum Entsetzen Mirandas - alle Skizzen über Bord wirft und beschliesst, fortan über seine Amerikareise Stillschweigen zu wahren.

Auch wenn Gaudí in Wirklichkeit diese Reise nie unternommen hat und die Dokumente zum New Yorker Wolkenkratzer vermutlich während des Bürgerkriegs zerstört worden sind, trifft Ruiz Zafón den Kern der Sache: Gaudí muss - aus welchen Gründen auch immer - die Hybris seines Tuns erkannt und deswegen den Mantel des Schweigens darüber ausgebreitet haben. Es war dann nicht Miranda, wohl aber der Gaudí-Schüler Joan Matamala, der 1956 das Geheimnis lüftete und mit fünf Hochhausentwürfen Gaudís und dreizehn eigenen Zeichnungen an die verblüffte Öffentlichkeit trat. Seither bestätigten verschiedene Gaudí-Spezialisten auf Grund von Studien und zeichnerischen Rekonstruktionsversuchen die Echtheit der Skizzen. Diese wirken noch nach in Jean Nouvels Torre Agbar, die im Herbst 2003 an der Plaça de les Glòries Catalanes in Barcelona eröffnet werden soll. Darüber hinaus will der Illustrator Marc Mascort Gaudís Wolkenkratzer möglichst originalgetreu zum Leben erwecken. Dazu hat er Ende Mai unter dem Titel «Gaudí's Project» eine Doppel-CD herausgegeben mit Ambient Music von verschiedenen Gruppen und virtuellen Darstellungen des Turmes, darunter eine Nachtansicht, auf welcher dieser die Stelle des ehemaligen World Trade Center einnimmt. Inzwischen bestehen bereits Kontakte zur Lower Manhattan Development Corporation, die sich durchaus vorstellen kann, dass Gaudís Projekt einfliessen könnte in die Neubebauung von Ground Zero, mit der sich gegenwärtig sechs vor wenigen Tagen gekürte Teams beschäftigen.


Ausstellung in der Finca Güell

Nun wurde das neuste wissenschaftliche Material zusammengetragen für eine von der Architekturfakultät Barcelona und der Reial Càtedra Gaudí organisierte Schau, die bis Ende Oktober unter dem Titel «La catedral laica» in der Finca Güell um ein 3 Meter hohes Modell des Hochhausprojekts inszeniert ist. Diese interessante Veranstaltung, zu der Ende Jahr eine Publikation erscheinen soll, darf als Schlussbukett des barcelonesischen Gaudí-Jahrs bezeichnet werden. Sie wird flankiert von drei weiteren, noch bis Ende Jahr geöffneten Ausstellungen zu den Themen «Gaudí und Güell» (im Palau Güell), «Gaudí und seine Werkstatt» (in der Sagrada Família) sowie «Architektur und Natur» (im Parque Güell). Ausserdem werden demnächst die beiden Ausstellungen «L'universo Gaudí» in Madrid und «Die Suche nach der Form» in León wiedereröffnet; und im Centro Cultural de Caixa in Girona zelebriert der Photograph und Gaudí-Interpret Marc Llimargas in grossartigen Detailaufnahmen Gaudís künstlerisches Genie.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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